Charlottes Traumpferd
Zügeln.
Auf einmal hörte Hirondelle auf, am Zügel zu zerren, und galoppierte brav hinter den anderen Pferden her. So musste man es also anstellen! Vielleicht hatte ich sie mit meinen Absätzen am Bauch gekitzelt und sie so zum Bocken gebracht.
Mit langem Bein, festem Sitz und weicher Hand lieà siesich jetzt auf jeden Fall wunderbar reiten. Für den Rest des Ausritts benahm sich Hirondelle vorbildlich und es begann, mir sogar Spaà zu machen.
Als ich eine halbe Stunde später mit butterweichen Knien aus dem Sattel glitt, war ich erschöpft und gleichzeitig stolz. Ich hatte einen Sieg errungen, einen Sieg über meine Ãngstlichkeit. Kein Hanko der Welt hätte mir jetzt noch Angst einjagen können, nachdem ich mich bei den Bocksprüngen so gut im Sattel gehalten hatte. Ich war nicht gestürzt, hatte mich nicht blamiert und zum Schluss waren Hirondelle und ich wirklich gut miteinander ausgekommen. Ich gab der Stute noch eine Möhre, nachdem ich ihr die Beine abgespritzt und sie in den Stall gebracht hatte.
»Wie warâs?«, erkundigte sich Nicolas, als ich das Sattelzeug an ihm vorbeitrug. »Wie bist du mit Hirondelle zurechtgekommen?«
»Kein Problem«, erwiderte ich lässig und machte mich auf den Weg zum Paddock.
Der Braune schien mich beinahe zu erwarten. Er näherte sich mir bis auf einen Meter, als ich ihm wieder zwei Ãpfel hinlegte, und während ich den Wassereimer auffüllte, blieb er sogar neben mir stehen.
Ich hatte heute einiges gelernt. Vertrauen war wichtig. Nicht nur Vertrauen zu anderen, sondern auch zu sich selbst. Ich freute mich, dass ich nicht einfach aufgegeben hatte, heute bei dem Ausritt mit Hirondelle. Ich hatte es geschafft, meine Angst und meine Unsicherheit zu überwinden. Vielleicht konnte eines Tages doch noch eine ganz passable Reiterin aus mir werden.
Die Tage vergingen und ich war jeden Tag im Club. Ab und zu begleitete ich meine Familie an den Strand, aber ich fühlte mich dort wie eine Fremde. Sonntags ging ich natürlich auch mit in die Kirche, aber die meiste Zeit verbrachte ich bei dem braunen Wallach im Paddock des Club Hippique. Nach zwei Tagen lief er nicht mehr vor mir weg, am dritten Tag nahm er die Möhren und Ãpfel aus meiner Hand und schlieÃlich duldete er, dass ich ihn streichelte.
Nicolas und Véronique nahmen nicht länger den Umweg am Zaun entlang, wenn sie vom Büro in den Stall gingen, sondern liefen quer durch den Paddock. Der Braune beäugte sie aufmerksam, machte aber keine Fluchtversuche mehr. Ich ging mit Schubkarre und Schaufel in den Paddock und sammelte die zahlreichen Pferdeäpfel auf, die der Wallach dort im Laufe der letzten Tage hinterlassen hatte. Dabei folgte mir das Pferd neugierig. Wahrscheinlich langweilte es sich mittlerweile.
Am Montagmorgen schlieÃlich wartete er am Zaun auf
mich. Ich stellte mein Fahrrad ab und ging langsam zu ihm hin. Vorsichtig kletterte ich durch den Zaun.
»Na«, sagte ich zu dem Pferd, »alles klar? Ich denke, ich werde dich jetzt erst mal gründlich putzen.«
Der Braune betrachtete mich mit gespitzten Ohren. Er wartete eindeutig auf seinen BegrüÃungshappen. Als ich ihm nicht sofort die Möhre gab, stupste er mich mit seiner weichen Nase an.
Nicolas und Véronique waren mit einer Gruppe Reiter unterwegs, Rémy war mit seinem alten Renault zum Futtermittelhändler gefahren, Cécile im Supermarkt einkaufen. Ich war ganz allein.
Aus dem Stall holte ich ein Halfter mit einem Strick und kehrte zu dem Braunen zurück. Wieder stieà er mich nachdrücklich an, rieb seine Stirn an meiner Schulter und sah mich aus seinen klaren dunklen Augen erwartungsvoll an. Der verängstigte Ausdruck war verschwunden. Mein Herz klopfte vor Aufregung, als ich ihm das Halfter hinhielt. Ohne zu zögern, steckte er seinen Kopf hinein. Mit einem Handgriff schloss ich den Genickriemen, mit der anderen Hand reichte ich ihm einen weiteren Apfel.
»Komm«, sagte ich, »wir gehen in den Stall.«
Ganz selbstverständlich trottete der Braune neben mir her durch das Gatter hinüber zu seiner Box, die ich schon vor Tagen dick mit Stroh eingestreut hatte. Ich hätte vor Freude jubeln können. Der Braune beschnupperte das Stroh und den Haufen Heu in der einen Ecke, dann nahm er einen Schluck Wasser aus dem Eimer. Ich stand in der offenen Boxentür und betrachtete ihn. Nein, er hatte wirklich keine Angst
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