Charlottes Traumpferd
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Nachdem er getrunken hatte, kam er zu mir und fuhr mir freundschaftlich mit seiner nassen Schnauze durchs Gesicht.
»Warte«, sagte ich, »ich hole dir schnell dein Frühstück.«
Als ich die untere Hälfte der Boxentür schloss, schob der Braune seinen Kopf über die Halbtür und blickte mir nach. Wenig später schüttete ich ihm eine Schaufel Hafer in die Krippe. Doch sosehr ich mich auch freute, so traurig war ich auch. Nur noch zwei Wochen waren es, bis ich ihn wieder verlassen musste. Wahrscheinlich würde ich ihn niemals wiedersehen, denn Nicolas und Véronique wussten noch nicht, ob sie im nächsten Jahr wieder mit den Pferden nach Noirmoutier kommen würden. Ich legte die Arme auf die Halbtür und sah dem Pferd beim Fressen zu.
»Du solltest einen Namen haben«, sagte ich zu dem Braunen.
Seitdem ich ihn kannte, hatte ich über einen schönen Namen für ihn nachgedacht. Dorothee und ich hatten lange Listen mit Pferdenamen angelegt. Wir schrieben immer die Namen auf, die uns in Büchern oder Turnierprogrammen besonders gut gefielen. Einen Namen gab es, den ich persönlich am liebsten mochte. Er klang kraftvoll und mutig.
»Won Da Pie«, sagte ich leise und lächelte, weil der Braune beim Klang meiner Stimme die Ohren gespitzt und von seinem Futter aufgesehen hatte. »Won Da Pie ⦠Das gefällt dir, oder?«
In der Ferne erklang das Klappern von Hufen, ich hörte Stimmen. Véronique und Nicolas kamen mit fünf Reitern vom morgendlichen Strandausritt zurück. Die würden Augen machen!
Wenig später war der Hof voller Pferde und Reiter. Ichnahm einer älteren Dame Gosse dâIrlande ab, weil sie ziemlich hilflos neben dem Pferd stand. Wie grob und abgestumpft Gosse gegen Won Da Pie wirkte! An dem braunen Wallach war alles geschmeidig und elegant. Ich brachte Gosse in seine Box, nachdem ich ihm die Beine abgespritzt und die Hufe ausgekratzt hatte. Die anderen Pferde waren mittlerweile auch alle versorgt, die Reiter verabschiedeten sich und gingen durch den Paddock zu ihren Autos. Erst da fiel Nicolas auf, dass Won Da Pie nicht mehr im Paddock war.
»Charlotte!«, rief er überrascht. »Wo ist der Braune?«
»In seiner Box«, erwiderte ich so beiläufig, als sei das die normalste Sache der Welt.
Da grinste der Reitlehrer übers ganze Gesicht und klopfte mir anerkennend auf die Schulter.
»Du hast es geschafft!« Er drehte sich lachend zu seiner Frau um. »Die Kleine hat doch tatsächlich unser Wildpferd gezähmt!«
Gemeinsam gingen wir zu Won Da Pies Box. Der braune Wallach streckte seinen Kopf über die Halbtür und rieb vertrauensvoll seine Nase an meiner Schulter.
»Das hast du echt toll gemacht.« Nicolas sah mich lächelnd an. »Ich bin stolz auf dich, Charlotte.«
Ich spürte, wie ich vor Freude und Stolz rot wurde.
»Hol ihn mal heraus und führ ihn etwas hier herum«, forderte Nicolas mich auf.
Ich nickte aufgeregt, öffnete die Boxentür und hakte den Strick in den Ring des Halfters. Ohne zu zögern, folgte Won Da Pie und trottete brav neben mir durch den ganzen Hof. Er lieà sich anbinden, und selbst als Nicolas auf ihn zutratund ihn streichelte, spitzte er die Ohren und zeigte keine Scheu.
»Ich glaube, er ist heilfroh, dass er keine Angst mehr zu haben braucht«, stellte Véronique fest. »Das hat er dir zu verdanken, Charlotte.«
»Es hat mir Spaà gemacht«, wehrte ich das Lob verlegen ab.
»Zuerst muss ich den Hufschmied bestellen«, sagte Nicolas mit einem kritischen Blick auf die schlechten Hufe des Braunen. »Und dann schauen wir mal, wie er sich unter dem Sattel benimmt.«
Da Won Da Pie nun einmal hier stand, holte ich das Putzzeug aus der Sattelkammer und machte mich an die Arbeit. Der Wallach war kitzlig am Bauch und wirklich sehr schmutzig. Bis er so fein aussah wie Gento, würde es eine Weile dauern. Zum Schluss bürstete ich seinen Schweif und schnitt ein Stück unten mit der Schere ab, denn er war viel zu lang. Ich war schweiÃgebadet, als ich schlieÃlich fertig war. Zufrieden begutachtete ich mein Werk. Genau in diesem Augenblick kam Rémy zurück. Er staunte nicht schlecht.
»Du hast den richtigen Draht zu Pferden«, sagte er zu mir. »Pferde merken es nämlich sofort, wenn jemand sie mag und versteht. Thierry, zum Beispiel, behandelt alle Pferde wie ein Auto oder ein Moped.
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