Charlston Girl
herbeigesehnt. Und jetzt haben wir sie... Ich möchte nicht am Ziel sein. Noch nicht. Die Kette ist der Grund, wieso Sadie mich heimgesucht hat. Wenn sie sie zurückbekommt...
Abrupt halte ich inne. Daran möchte ich nicht denken. Daran möchte ich überhaupt nicht denken.
Der Wind raschelt durch das Laub am Boden, und Sadie blickt auf, blass und entschlossen.
»Lass mir etwas Zeit.«
»Ja.« Ich schlucke. »Klar.« Ich stopfe die Kette wieder in den Umschlag und kehre ins Restaurant zurück. Sadie ist bereits verschwunden.
Ich kann meine Pizza nicht essen. Ich kann nicht Smalltalk machen. Ich kann mich nicht konzentrieren, als ich ins Büro komme, obwohl da sechs weitere Anrufe von erstklassigen Personalchefs sind, die sich mit mir treffen möchten. Der Umschlag liegt auf meinem Schoß. Meine Hand hält die Kette darin fest. Ich kann sie nicht loslassen.
Ich simse Ed, dass ich Kopfschmerzen habe und allein sein möchte. Als ich nach Hause komme, ist keine Sadie da, was mich nicht überrascht. Ich mache mir mein Abendbrot, das ich nicht esse, dann sitze ich mit der Kette um den Hals im Bett, drehe die Perlen, sehe mir alte Filme an und spare mir den Versuch einzuschlafen. Schließlich, gegen halb sechs, stehe ich auf, ziehe mich an und gehe vor die Tür. Das sanfte Grau der Dämmerung ist vom kräftigen Rosarot des Sonnenaufgangs durchzogen. Ich stehe da, sehe mir den roten Streifen am Himmel eine Weile an und merke, wie es mir ein klein wenig besser geht. Dann kaufe ich mir einen Kaffee, steige in einen Bus und fahre nach Waterloo, starre leeren Blickes aus dem Fenster, während der Bus durch die Straßen zuckelt. Als ich ankomme, ist es kurz vor halb sieben. Menschen tauchen auf der Brücke und in den Straßen auf. Die London Portrait Gallery ist allerdings noch geschlossen. Verriegelt und verrammelt, keine Menschenseele drinnen. Das zumindest sollte man glauben.
Ich suche mir eine niedrige Mauer in der Nähe, setze mich und trinke meinen Kaffee, der lauwarm ist, aber köstlich auf leeren Magen. Ich rechne fast damit, dort den ganzen Tag sitzen zu müssen, doch als von irgendwoher eine Kirchenuhr acht schlägt, sehe ich sie auf den Stufen, mit diesem verträumten Ausdruck in den Augen. Wieder trägt sie ein neues Kleid, diesmal in Silbergrau, mit einem blütenbesetzten Tüllrock. Sie hat sich einen grauen Glockenhut aufgesetzt und blickt zu Boden. Ich möchte sie nicht erschrecken, und so warte ich, bis sie mich von allein bemerkt.
»Lara.«
»Hi.« Ich hebe eine Hand. »Dachte mir schon, dass du hier bist.«
»Wo ist meine Kette?« Panik spricht aus ihrer Stimme. »Hast du sie verloren?«
»Nein! Keine Sorge. Ich hab sie. Alles okay. Hier ist sie. Guck her!«
Weit und breit ist niemand da, und doch sehe ich mich um, für alle Fälle. Dann hole ich die Kette hervor. Im strahlenden Morgenlicht sieht sie noch spektakulärer aus als je zuvor. Ich lasse sie durch meine Hände gleiten, und die Perlen klicken sanft aneinander. Liebevoll betrachtet sie die Kette, streckt ihre Hände aus, als wollte sie sie nehmen, dann weicht sie zurück.
»Ich wünschte, ich könnte sie berühren«, murmelt sie.
»Ich weiß.« Hilflos halte ich sie ihr hin, als würde ich sie präsentieren. Ich möchte sie ihr um den Hals legen. Ich möchte sie mit ihr vereinen.
»Ich möchte sie wiederhaben«, sagt sie leise. »Ich möchte, dass du sie mir zurückgibst.«
»Jetzt? Heute?«
Sadie blickt mir in die Augen. »Jetzt gleich.«
Plötzlich schnürt sich mir die Kehle zusammen. Ich kann nichts von allem sagen, was ich sagen wollte. Ich glaube, sie weiß es auch so.
»Ich möchte sie wiederhaben«, sagt sie noch einmal, leise, aber energisch. »Ich war zu lange ohne sie.«
»Okay.« Ich nicke mehrmals und halte die Kette so fest, dass ich fast Angst habe, mir die Finger zu quetschen. »Nun denn. Dann sollst du sie bekommen.«
Die Fahrt ist zu kurz. Das Taxi fädelt sich allzu mühelos durch die Straßen. Ich möchte dem Fahrer sagen, dass er langsamer machen soll. Ich möchte die Zeit anhalten. Ich möchte, dass das Taxi sechs Stunden im Stau steht... Plötzlich jedoch biegen wir in die kleine Straße am Stadtrand ein. Wir sind da.
»Na, das ging aber schnell, was?« Sadies Stimme klingt heiter und entschlossen.
»Ja!« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Erstaunlich schnell.«
Als wir aus dem Taxi steigen, spüre ich, wie sich mir die Brust vor Angst zusammenschnürt. Ich halte die Kette so fest, dass sich meine Finger
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