Chasm City
zweihundert Habitats verschont geblieben: hauptsächlich die ältesten und robustesten Konstruktionen, die mit Stein und Eis gegen die Strahlungsstürme abgeschirmt waren und sich mit Batterien von Lasern zur Kollisionsabwehr, die überall auf der Oberfläche angebracht waren, die größten Brocken vom Leib gehalten hatten.
Das war sechs Jahre her. Seitdem, so hatte mir Quirrenbach erzählt, hatte man den Rostgürtel stabilisiert, die meisten gefährlichen Trümmer eingefangen, zu großen Klumpen verdichtet und ins brodelnde Antlitz von Epsilon Eridani geschleudert. Damit hatte man zumindest verhindert, dass sich der Gürtel weiter auflöste. Die meisten Rümpfe hielt man auf Kurs, indem man ihnen immer wieder einen Schubs mit einem Robotschlepper versetzte. Nur eine Handvoll waren mit Erfolg neu belüftet und besiedelt worden, obwohl natürlich alle möglichen Gerüchte über zwielichtige Gruppen kursierten, die sich zwischen den Trümmern eingenistet haben sollten.
Soviel hatte ich aus den Datennetzen erfahren. Dennoch war ich erschüttert, als ich die Ruinen zum ersten Mal mit eigenen Augen sah. Yellowstone, ein ockerfarbenes Ungetüm, das den halben Himmel verdeckte, war keine blasse, zweidimensionale Scheibe vor den Sternen mehr, sondern eine Welt wie die, die ich verlassen hatte. Als die Strelnikov auf die Station zuschoss, an der sie andocken sollte, sah ich die Schatten anderer verwüsteter Rümpfe vor Yellowstones Oberfläche vorbeiziehen. Knorrige Gebilde, ausgeweidet, mit Dellen und Kratern übersät, die von gewaltigen Kollisionen zeugten. Immer wieder hielt ich mir die Zahl der Toten vor Augen, die dieser Rostgürtel repräsentierte: zwar hatte man sich bemüht, möglichst viele Habitats zu evakuieren, bevor sie getroffen wurden, aber es war sicher nicht einfach gewesen, so kurzfristig eine Million Menschen abzutransportieren.
Unsere Station hatte die Form einer fetten Zigarre und rotierte wie Idlewild um ihre Längsachse, um damit Schwerkraft zu erzeugen. Ihr Name war, wie ich von Schwester Amelia wusste, Karussell New Vancouver. Ihr Eispanzer war vorwiegend schmutzig grau, nur vereinzelt hoben sich glänzende Stellen ab, vermutlich Einschläge, die erst kürzlich ausgebessert worden waren. Der Zylinder rotierte lautlos und stieß dabei ein Dutzend Dampfsäulen aus, die sich wölbten wie die Arme einer Spiralgalaxis. Ganz hinten hing ein riesiges Raumschiff, es hatte die Form eines Manta-Rochens mit Dutzenden von winzigen Fensterchen an den Flügelrändern. Doch die Strelnikov schwenkte auf eine Spitze der Zigarre zu. Dort öffnete sich ein dreieckiges Maul und nahm uns auf. Wir schwebten in einen Raum, über dessen Wände sich ein unübersichtliches Gewirr von Rohren und Treibstofftanks zog. In einzelnen Parkbuchten hatten bereits andere Shuttles festgemacht: zwei schnittige flaschengrüne Atmosphärekutter, geformt wie Pfeilspitzen, und zwei Schiffe, die wie Geschwister unseres Shuttleboots aussahen: stumpfnasig, eckig, mit freiliegenden Triebwerkskomponenten. Auf allen Schiffen tummelten sich, durch Nabelschnüre mit dem Rumpf verbunden, Gestalten in Raumanzügen und mit Werkzeugkästen in den Händen. Ich sah einige Roboter, die mit Reparaturen beschäftigt waren, doch die meisten Arbeiten wurden von Menschen oder biotechnisch veränderten Tieren ausgeführt.
Mir fiel plötzlich ein, welche Bedenken mich einst im Hinblick auf dieses System beschäftigt hatten. Ich hatte mich auf eine Kultur eingestellt, die der meinen in so gut wie jeder Beziehung um etliche Jahrhunderte voraus wäre, hatte befürchtet, wie ein dummer Bauer durch eine Welt voller Wunder zu stolpern. Doch diese Szene hätte durchaus aus der Vergangenheit meiner eigenen Welt stammen können… sogar aus der Zeit, als die Flottille gestartet war.
Wir dockten mit einem spürbaren Ruck an. Ich sammelte meine Habseligkeiten ein – einschließlich der Dinge, die ich Vadim abgenommen hatte – und arbeitete mich in Richtung Ausgang vor.
»Jetzt heißt es wohl Abschied nehmen«, sagte Quirrenbach, als wir in der Menge darauf warteten, dass New Vancouver uns einließ.
»Ja.« Wenn er sich eine andere Antwort erhofft hatte, musste ich ihn enttäuschen.
»Ich… hm… ich habe noch einmal nach Vadim gesehen.«
»Dieses Stück Dreck kann mir nun wirklich gestohlen bleiben. Wahrscheinlich hätten wir ihn aus der Luftschleuse stoßen sollen, als das noch möglich war.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Trotzdem, er gehört tatsächlich
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