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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Gehrig. Hätte mich damit verdammt nochmal fast umgebracht, falls Sie mir den Ausdruck verzeihen wollen.«
    Ich zog die Ausweiskarte durch. Ein zweites Drehkreuz. Die Kamera beobachtete mich, doch war nichts in meiner Tasche außer Pashminaschal, Portemonnaie und Lorazepam. Ich trug Leere ins Haus. Türen öffneten sich. Eine weitere Kamera zeichnete mein Näherkommen auf. Zweifellos wurden Tausende meiner Tage derart festgehalten und digital im Limbo gelagert. Ich nahm zwei weitere Stufen, ohne mich auf etwas freuen zu können, und zog ein letztes Mal die Karte durch.
    Ich öffnete die Werkstatttür, doch da war nicht Leere, da waren Teekisten.
    Ich glaube, ich stieß einen kleinen Schrei aus. Vielleicht wurde er aufgenommen. Einen Augenblick später öffnete sich das Rattennest aus zerknüllten
Daily-Mail
-Zeitungsseiten, und da lagen Henry Brandlings Notizhefte, sorgsam mit Bast umschnürt.
    Am Arbeitsplatz stellte ich fest, dass das erste Heft vollständig beschrieben war, Seite um Seite. Sämtliche Hefte waren das, jedes einzelne. Im weiten Meer scharfkantiger Wellenlinien blieb keine Zeile leer. Am liebsten hätte ich sie gleich alle mitgenommen, steckte aber nur vier davon in einen Druckverschlussbeutel, und diesen verbarg ich in meiner Handtasche. Dann schob ich die übrigen Hefte auf das hohe Regal über der Abzugshaube, wo niemand je danach suchen würde. Es gab für mich noch genau neun weitere Folgen zu lesen.
    Erst als ich meine Beute an den Haken hinter der Tür hängte, fiel mir auf, dass es in meiner Werkstatt nicht mehr so aussah wie noch am Freitagabend. In der linken Zimmerecke gleich neben der Tür, bei meinem Eintreten also hinter meiner linken Schulter, bedeckte eine schimmernde graue Plane irgendwelche Gegenstände, von denen der größte gut ein Meter zwanzig hoch zu sein schien.
    Ich musste an einen gestrandeten Rochen denken, an irgendwas Untotes, in
La dolce vita
an Land gespült. Als der Verstand sich wieder regte, wurde mir klar, was unter der Plane lag, liegen
musste
– eine obere und eine untere, von einem Gewicht angetriebene Walze mit dreißig Hebeln, die sich mit diversen Teilen des Knochensystems einer Ente verbinden ließen, so dass sie
à la Riskin
trinken konnte und noch manches mehr. Das würde kein rauchender Affe werden, so viel war klar, als ich die Hülle abzog. Wenn ich einen Augenblick später wieder alles zudeckte, dann nicht wegen des genialen Mechanismus, sondern wegen eines hölzernen Gegenstandes, der neben dem Haufen lag. Selbst das war eigentlich nichts, natürlich nicht, bloß eine Art hölzernes Gehäuse, das früher vermutlich den Mechanismus beherbergt hatte, nur war ich ein wandelnder Albtraum, und mein Hirn meldete eine unvollständige Einäscherung, einen verbrannten Braten, eine schwarze, gestaltlose Angst. Rein beruflich verstand ich die pechschwarze Unterseite, trotzdem sah ich die Schale einer riesigen Muschel, verkrustet, splittrig, aus Teer ans Licht geholt. Ich roch Napalm, Kreosot, verbranntes Schwein, Tod.
    AN : [email protected]
    VON : [email protected]
    Betr.: Bronchitis
    Tut mir leid. Diagnose bestätigt.
    Kurz darauf trug ich mich unten wieder aus.
    »Sie zittern ja«, sagte Arthur.
    Ich eilte durch die Drehkreuze, meine Beute fest unter den Arm geklemmt. Henry Brandling, dachte ich, was ist dir passiert? Wie viel Geld wurde dir gestohlen?

Henry
    Obwohl mit Nachdruck befragt, gab Frau Beck vor, sich an den Mann im Salon nicht erinnern zu können.
    »Falls Herr Brandling den Engländer meinen, so kann ich nur sagen, dass der Gentleman seine Rechnung beglichen hat. Mehr weiß ich nicht.«
    »Ich bin der Engländer.«
    »Ja, Herr Brandling«, erwiderte Frau Beck (reimt sich auf
meck
, eine meckernde kleine Person). »Sie sind auch ein Engländer, Mr Brandling. Aber
dieser
Engländer …« Sie breitete ihre drahtigen dünnen Arme aus, um die Schulterbreite des Schufts anzudeuten, »… der hat bezahlt.«
    Fraglos war ich von einem Schwindler hereingelegt worden, der es auf fahrende Reisende abgesehen hatte. Heftig schlug ich mit der Hand auf den Tresen, und das missfiel Frau Beck.
    »Er war ein Deutscher«, sagte ich.
    »Nein, ein Engländer.«
    Man hatte mich beraubt. Wofür hatte ich nun meinen Sohn im Stich gelassen? Für eine Spielkarte?
    »Was ist mit dem Zimmermädchen?«, fragte ich.
    Dem Zimmermädchen? Was für einem Zimmermädchen? Und so weiter. Gehörte Frau Beck mit zur Bande?
    »Das Zimmermädchen, das mein Zimmer putzt.«
    »Das

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