Chemie der Tränen
schrieb Percy, dem ich genauestens vom cleveren, verkrüppelten Jungen berichtete, über dessen brillante Erfindung sowie von meinem Abenteuer, das mich direkt in Ali Babas Räuberhöhle führen sollte. Wie zuvor vereinbart, schickte ich den Brief an meinen Freund George Binns, der sich einverstanden erklärt hatte, samstags und donnerstags zu Percy hinauszufahren, um ihm vorzulesen.
Am zweiten Tag reisten wir tief hinein in den Schwarzwald. Der Weg war malerisch, verlief aber recht steil. Und alles sah so ganz und gar un-Grimm-ig aus, schön und entzückend – dunkelgrüne Haine, helle Almen, gepflegte Gärten, ungezählte Bergbäche, Flüsse und Rinnsale, um gar nicht erst von den pittoresken Häusern mit ihren tief hängenden Dächern zu reden, von den Reihen blitzender Fenster, den gedrechselten Balkonen und den Bewohnern der Häuser, diesem eigenwilligen, besonderen Menschenschlag, deren Frauen ein Mieder zum leuchtendbunten Rock trugen, eine Schürze sowie eine adrette, kleine, spitz zulaufende Haube, unter der lange Zöpfe vorlugten, war es doch allein das Vorrecht der Gatten, ihr Haar offen zu sehen. Ich wünschte mir, in diesem ganz privaten Sinne auch einmal wieder ein Ehemann sein zu dürfen.
Traurig war ich also manchmal, oft einsam, doch hatte ich es in meinem ganzen Leben noch niemals gewagt, mich auf ein echtes Abenteuer einzulassen, und so dachte ich viel an meinen Automaten und daran, wie er, noch ehe er zum Leben erweckt worden war, bereits seine Macht bewiesen hatte, indem er den Verlauf der Sterne änderte.
Unablässig fuhr die schaukelnde Kutsche bergan, bis das Sonnenlicht schließlich jenes melancholische Weiß annahm, das höchsten Höhen eignet. Da waren wir nun in einem Land, das außer Busch und Gras nichts weiter wachsen ließ. Stille herrschte auf dem Kutschdach, und ich fürchtete, die Landschaft unseres Reiseziels könnte so gar keine Ähnlichkeit mit jener während der Fahrt haben. Das Gras war nun ausgebleicht, und wir fuhren durch eine Torfgegend, auch wenn, jedenfalls soweit mein Blick reichte, keiner der Bewohner dafür Verwendung gefunden zu haben schien. Das Holz der Fachwerkhäuser wirkte ausgebleicht wie alte Knochen, und in dem seltsamen weißen Licht wurde ich zu meinem eigenen schlimmsten Feind, meiner besten Hoffnung, zu einem jener labilen Brandlings, die stets bereit waren, an ein Wunder zu glauben.
2
Es wurde einst gesagt: »Für einen Brandling ist das Glas auch dann noch halb voll, wenn es ihm bereits in Scherben vor den Füßen liegt.« Ha, ha, wie lustig. Aber hat denn niemand bedacht, dass der optimistische Blick meist die angemessenste Betrachtungsweise ist? Deshalb werden unsere ängstlichen Gebete auch so oft ›erhört‹. Deshalb stoßen wir, kommen wir von einem der trostlosen Gipfel unseres Lebens herab, meist auf ein gefälliges Tal mit einem sauberen, geweißten Gasthof, die Fensterkästen voll blühender Blumen.
Und dieser Gasthof erwartete mich denn auch, woraufhin meine mir angeborene gute Laune flugs zurückkehrte. Alsbald würde der schielende Kutscher aus den luftigen Ställen aufbrechen, meinen Koffer auf dem breiten Rücken, doch gesellte er sich erst auf eine deftige Haxe und einen Krug mit schäumendem Bier zu uns. Es gab keinerlei angsteinflößende Andeutungen, keine Todesschatten waren zu sehen, jedes Ligusterblatt glänzte hell, grün und frisch gestutzt.
Nicht einmal das Gewicht eines Anzugs aus Harris-Tweed konnte einen von der malerischen Ernteszene ablenken, durch die unser Grüppchen schlenderte. Und wer bliebe unberührt von der guten Laune seiner Gefährten oder auch nur vom Anblick dieses Jungen, der rannte, hüpfte, tollte und den Erntearbeitern zurief. Man kannte ihn – er hieß Carl.
Wir waren nun unterwegs zu dem Ort, an dem vielleicht ein wirkmächtiges Präparat für meinen Percy zusammengesetzt werden würde. Vor lauter Ungeduld war ich ganz aufgeregt und paradoxerweise doch zugleich von all den Verzögerungen angetan. Wie hätte ich denn auch nicht glücklich sein können, einen geliebten Jungen zu sehen, dessen Gewicht gerade von den Arbeitern geschätzt wurde? Als er stürzte und dabei geschickt zu Boden fiel, schien er keinerlei Selbstmitleid wegen seines verkrüppelten Beins zu kennen. Ja, ich litt darunter, dass mein Sohn nicht bei mir war – ein schrecklicher Schmerz –, doch ist es die Liebe allein, die dem Glücklichen solche Symptome beschert.
Und was nun die deutsche Mutter betrifft? Wer hätte gedacht,
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