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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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dass jene ferne Gestalt auf dem Weizenfeld solch erbärmliche, schwielige Hände hatte, rote Ellbogen und einen Mund, der sich gar nicht erst allzu viel zu erhoffen wagte?
    Im Winter (was außer mir offenbar jedermann wusste) werkelten die Furtwangener Männer an ihren Kuckucksuhren, und im Sommer arbeiteten sie Seite an Seite mit ihren Frauen. Sie waren Alemannen und Kelten, groß, stark, von hellem, fröhlichem Gemüt und Temperament. Sie gefielen mir, auch wenn sie sich offensichtlich keinen Deut um mich scherten.
    Unser Weg führte uns bald an einen Bach, und der junge Carl hielt am schlammigen Ufer inne, um erneut seinen Trick mit den Holzklötzchen vorzuführen, die rot und gelb über die Brücke hüpften und den gewünschten Effekt zeitigten; der Artist wünschte uns Lebwohl; und wir folgten dem Bach, der durch zwei weglose Täler verlief sowie durch eine kühle Klamm, in der sich die schwarzen Nadeln der hohen Silbertannen zu wahren Hügeln aufhäuften, um sich nur manchmal mit dem helleren Grün vom Laub der Eichen und Buchen zu mischen. Ein schmaler Pfad führte dann einen Fels hinab, eine Stelle, an der unser sanfter Wasserlauf seine wahre Natur verriet und wie ein brüllendes Biest vorwärts stürmte, schäumte und sich in einen tiefen Spalt warf, um alsbald das hohe Rad einer Mühle anzutreiben. Von dort aus folgten wir den in Stein gehauenen Stufen.
    Oben stellten wir fest, dass die Mühlengebäude sich über das gesamte Plateau erstreckten, ein Gewirr spitzer Dächer mit tief hängenden Traufen. Die Luft wirkte für diese Jahreszeit ungewöhnlich feucht, grünspanig und moderig. Das Dachgesims wies allerlei Schnitzereien auf, was fraglos an die Kuckucksuhren denken ließ und den Suchenden in diesem Sinne bestärkte.
    »Sumpi«, rief der Junge.
    Obwohl es mittlerweile Frühsommer und die Zeit damit vorbei war, in der Baumstämme zu den größeren Flüssen geflößt wurden, stießen wir auf vergessene, unordentlich gestapelte Tannenstämme. Im düsteren Schatten zwischen Mühle und Wohngebäude war alles feucht und klamm. Haufen alten, grauen Sägemehls und frisch geschlagene Stämme blockierten manchmal den Weg. Kupferkabel verliefen wie Zeltleinen von den Spitzen des Mühlenhauses in den umliegenden Grund und waren dort, wo sie in der Erde verschwanden, von Holzkästen umschlossen. Mir wurde klar, dass nicht jedermann dieses unwissenschaftliche Durcheinander tröstlich finden würde, doch sah ich darin nur einen weiteren Beleg dafür, dass meine Diebe sich noch als verkleidete Engel erweisen mochten.
    »Sumpi! Sumpi!« Die Augen des Jungen strahlten vor Begeisterung. Ich dachte, wie klug es doch von mir gewesen war, mich auf dieses neue Abenteuer einzulassen. G. L. Sanderson fiel mir ein:
    Als das Leben fast vorüber schien,
    zeigte sich dieser Silberstreif.
    Wir öffneten eine schwarz glänzende Tür, und ohne dass uns auch nur ein Elefantenfuß oder eine Mantelablage aufgehalten hätte, betraten wir das Herz des Geschehens, eine höhlenartige Küche mit niedriger Decke und kleinen, tief eingelassenen Fenstern. Es war heller Nachmittag, doch brannten drinnen bereits zwei Kerzen und eine Lampe, diverse Töpfe dampften auf dem Herd, und ich roch den höchst willkommenen Duft von Bratäpfeln.
    »Sumpi!«
    An einem großen, eckigen Tisch unter einem der Fenster saßen zwei Männer, der eine klein wie ein Kobold, der andere – nun, der andere war natürlich der große, stiernackige Kerl aus dem Hotel, der sich so sehr für die romantische Doktrin vom Karlsruher Rad eingesetzt hatte. Dieser kuriosen Kreatur, deren höckriger, kahler Schädel im Kerzenlicht glänzte, galt Carls ganze Liebe. Ich berichtigte mein Bild von ihm. Das lag in meiner Natur.
    Und los ging’s, hey ho, die Treppe hinauf, alle beide, Mann und Junge, ein großes Rennen, wie beste Kumpel, die sich nach langen Ferien wiedersehen.
    Niemand hatte sich die Mühe gemacht, mich dem zierlichen Mann in Lederhosen vorzustellen, weshalb ich selbst die Honneurs übernahm. Ich hielt ihn für einen Uhrmacher, und seine hohe Stimme und präzise Ausdrucksweise waren genau das, was man erwartete – man rechnet schließlich nicht damit, dass Wunder von Männern mit Gärtnerhänden geschaffen werden. Er sagte, er heiße Arnaud.
    Henry, sagte ich mir, du bist an einem Ort angekommen, den du dir nie auch nur hättest erträumen können. In Gedanken begann ich, den nächsten Brief an meinen Sohn zu verfassen.
    Eine sanfte Brise strömte durch die offenen

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