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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Fensterläden. Man konnte das Zischen der Äpfel hören, den unaufhörlich murmelnden Bach, das beständige Echo der Unterhaltung zwischen Herrn Sumper und dem ihn anhimmelnden Kind.
    Der Kutscher stellte irgendwo mein Gepäck ab. Ich gab ihm ein Trinkgeld, und er zog wieder davon. Frau Helga hatte in der Küche zu tun, und ich saß am Tisch, mir selbst überlassen.
    Der kleine Hugenotte – als solcher stellte er sich vor – sprach ein ausgezeichnetes Englisch und ließ mich wissen, dass in diesen Bergen ein wilder, eigenwilliger Menschenschlag lebte. Falls er geglaubt hatte, mich damit abzuschrecken, war ihm kein Glück beschieden. Wild und eigenwillig war genau das, was mir der Arzt verschrieben hatte. Bislang aber roch es nur nach Häcksel und süßlichem Pfeifentabak.
    Es dauerte eine gute halbe Stunde, ehe Herr Sumper und Carl die Treppe wieder herunterkamen, Hand in Hand, unübersehbar froh, wieder beisammen zu sein.
    »Nun, Herr Brandling«, sagte Herr Sumper schließlich, »Sie und ich, wir haben da noch was Geschäftliches zu besprechen.«
    Was Geschäftliches, was Geschäftliches
, wie seltsam beruhigend diese Formulierung klang. Ich fragte den Deutschen, wie es komme, dass er meine Muttersprache so gut beherrsche, und ich bezweifle nicht, dass er mir eine ernsthafte Antwort gab, doch hastete er bereits die Treppe wieder hinauf.
    Als ich ihn einholte, eilte er mit langen Schritten einen fensterlosen Flur entlang. Der Boden senkte sich so stark wie die mörderische Schütte des Kiesbrechers von Brandling Railway Co., doch falls dies ein Omen sein sollte, entging es mir. Am unteren Ende erwartete mich mein eigentliches Ziel, eine kräftige Kieferntür mit drei unterschiedlichen Schlössern. Natürlich,
diese Tür musste verschlossen sein
. Ich wäre der Letzte, der etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte.
    Mit eigenem Vermögen, begriff ich ein wenig spät, ließ sich in jede Gegend reisen, in die man nur zu reisen wünschte. Wie eigenartig, dass ich nie zuvor daran gedacht hatte. Hier stand ich nun – im innersten Heiligtum, eine Vision war Wirklichkeit geworden, und jedes noch so kleine Detail dieser wahrhaft existierenden Werkstatt, jedes konkrete Faktum, stand im Dienste des Hippokrates. Ich sah Maschinen, natürlich, so wie erträumt, nur hatte ich nie die Phantasie besessen, mir auszumalen, die Werkstatt könne über einem wilden Abgrund liegen, dessen Wasserlauf die nötige Antriebskraft für diese Maschinen lieferte. Alles war ungewöhnlich sauber und ordentlich, so auch eine Anzahl blitzender Drehbänke, die eine ziemlich groß, die übrigen eher in Maßen, wie Uhrmacher sie traditionell bevorzugten. Bei der kleinsten Drehbank verlief ein Segeltuchriemen zu einem sich drehenden Zylinder, und dieser wiederum war mittels eines breiteren Riemens mit dem Mühlenrad verbunden.
    Meine Ohren verrieten mir, dass wir hinter einem auf Fels hinabstürzenden Wasserfall standen.
    Ich rief dem Deutschen zu, dass Vaucanson eine Drehbank erfunden habe, die nahezu identisch mit dieser Zwergenversion sei.
    Herr Sumper funkelte mich an.
    Oje, dachte ich, beleidige ihn jetzt bloß nicht.
    Doch dann, in Blitzesschnelle, als wäre sein eigener Antriebsriemen auf ein größeres Rad übergesprungen, grinste er und deutete auf die Wand in meinem Rücken.
    »Mehr Vaucanson brauchen wir nicht.«
    Und – wie leicht zu erraten – da hingen sie, die Pläne der beiden wahren Freunde, an die Wand geheftet.
    Aus dem Rauschen des Wassers hörte ich die Stimmen meines Vaters und meines Bruders, die im Chor riefen, ich solle diesem Gauner bloß kein Geld der Familie anvertrauen.
    Nur war ich nicht deren Leibeigener. Und als Herr Sumper mir zeigte, was er genau an Material brauchte, war ich dermaßen weit fort von Low Hall, dass ich die Gründlichkeit lobte, mit der die Einkaufsliste erstellt worden war, die ich nicht zu lesen vermochte. Wirr im Kopf und vor Freude jubilierend zahlte ich ihm im lauten Wassergebrüll sämtliche Gulden und Vereinsthaler, die er verlangte.
    Mit jeder Münze, die ich in seine tief gekerbte Hand legte, kam ich jener Apparatur näher, die der hochnäsige Masini den ›Gral der Uhrmacher‹ genannt hatte. Mag er ein Gral sein, dachte ich und leerte meine Börse. Mit einem Gefühl des Triumphs schritt ich dann die schräge Schütte wieder hinan bis zu dem Treppenabsatz, auf dem ich schlafen sollte. Freudig erregt betrat ich meine Kammer, so SPARTANISCH , so überaus dem eigenen Heim überlegen, das von der

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