Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
Vom Netzwerk:
verächtliches Schnauben von mir gegeben zu haben.
    »Es ist besser, die Pläne werden dorthin gebracht, wo sie verstanden werden.«
    Ihre unterwürfige Art hatte sie abgestreift. Ja, dachte ich, ich hatte recht, eine Bande.
    »Und wo können meine Pläne verstanden werden?«
    »In Furtwangen.«
    Wer hatte denn je von einem Ort mit solch komischem Namen gehört?
    »Doch selbst Furtwangen ist voll mit mittelmäßigen Menschen.«
    Ich hätte sie gern ausführlich nach den Quellen ihrer so ausgeprägten Ansichten befragt, hätte das Kind nicht nahezu unbemerkt eine Anzahl kleiner, leuchtend bunter Holzklötze hervorgeholt, und dann – von wo nur? – ein Stück Stahldraht gezückt, vielleicht einen halben Zentimeter dick. Schweigend sah ich zu, wie er rasch eine geschickt geschwungene Brücke zusammenbaute, über die seine roten und gelben Klötzchen hüpften und glitten, allesamt angetrieben von einer unsichtbaren, magischen Kraft.
    Was für eine wunderbare Vorrichtung. Welcher liebeskranke Vater wäre von einem solchen Kind nicht verzaubert gewesen?
    Die Stimme des Jungen glich einer kleinen Glocke. Als er sprach, klang es so melodisch, dass ich erst gar nicht begriff, dass er in meiner Sprache redete.
    »Er hat dies für Ihren Sohn gebastelt«, sagte die Mutter. »Sie schicken es nach England, und Ihr Junge kann damit spielen, während er darauf wartet, dass sein Vater wiederkommt.«
    Woher wussten sie, dass ich einen Sohn hatte?
    »Wirklich sehr freundlich«, erwiderte ich schließlich, »doch braucht Ihr Sohn kein Spielzeug für meinen Jungen zu kaufen.« Sie hatten Percys Bild gesehen. Deshalb.
    »Nicht gekauft«, sagte sie und strich ihm mit einer Hand über den Kopf. »Er hat’s gemacht. Abends.« Wie sie ihn liebte – sie strahlte es geradezu aus –, doch angesichts des handwerklichen Geschicks und der Raffiniertheit dieser Apparatur brachte ich meine Zweifel deutlich zum Ausdruck.
    »Sie tun ihm unrecht«, sagte sie, und auch der letzte Rest von Respekt war aus ihrer Stimme verschwunden. »Er hat’s selbst gemacht und sich dabei geschnitten. Für seine Achtlosigkeit wird er noch bestraft.«
    Er war offenkundig ein sehr ernsthafter Junge und trug am Unterarm einen weißen Verband. Von seinem standhaften Blick musste ich mich schließlich abwenden, weshalb ich meine Aufmerksamkeit auf den Brief richtete, der mir in hübsch kalligraphischem Englisch mitteilte: »Wir machen Ente, Herr Brandling. Eine Kutsche wir haben bestellt, die bringt sie zu Uhrmacher.«
    Was blieb mir anderes übrig, als sie auszulachen?
    »Warum sollte ich Sie anlügen, mein Herr? Man steckt mich ins Gefängnis, wenn ich betrüge. Ich wäre ruiniert. Bitte, kommen Sie. Sie können sich eine so prächtige Maschine nicht von einem gewöhnlichen Werkstattmeister machen lassen.«
    »Wie aber wollte man so etwas
ohne
eine Werkstatt anfertigen?«
    »Sie lernen ihn kennen. Er heißt Herr Sumper.«
    »Dann hat Herr Sumper mich beraubt?«
    »Nein, er ist nach Furtwangen vorgefahren und erwartet Sie dort.«
    Seit meinem ersten Tag in Harrow war mein vertrauensseliges Gemüt Anlass zu so mancher Heiterkeit gewesen, doch fand ich es eigenartig, dass derlei Einschätzungen unvermeidlich von jenen ausgesprochen wurden, die selbst als nicht vertrauenswürdig galten – warum sich des eigenen widerlichen Charakters rühmen?
    Nur bedenke man Folgendes. Wer hätte sich an meiner statt geweigert, mit den Dieben mitzufahren? Welch Kummer hätte ich meinem Sohn auf diese Weise zugefügt? Welch ungewöhnliche Reise wäre mir entgangen, eine Reise, die mir viele gewiss gar nicht glauben werden und deren erster Abschnitt, südwärts entlang des Rheins, so ästhetisch befriedigend wie friedlich verlief. Soll heißen, ich vertraute mein Leben einem Kind und dessen Mutter an und erlaubte es mir – einem eigentlich recht langweiligen Kerl –, durch den Schwarzwald gefahren, nein, in ihn hinaufkutschiert zu werden, in einen Wald, den ich bislang nur durch die Gebrüder Gruselig kannte, wie meine Mutter die Grimms stets zu nennen pflegte. Einen Großteil der Fahrt, die ich im Gefährt verbrachte – während meine kleine Bande auf dem Dach hockte, oft aus Leibeskräften singend –, verlief recht einsam, doch um wie vieles friedvoller als die letzten beiden Jahre, in denen ich so oft fürchten musste, Blutflecken auf dem Kopfkissen im Kinderzimmer zu entdecken.
    Im ersten Gasthof hieß man uns willkommen, war aber nicht besonders reinlich. Ich bat um Kerzen und

Weitere Kostenlose Bücher