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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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jüngsten Tochter einer Familie von Bierbrauern eingerichtet worden war. Gott vergebe mir, wie hässlich ist es doch, derlei zu denken. Es mag genügen zu erwähnen, dass ich von nun an keinerlei Ölgemälde mehr benötigte, keine Pastellzeichnungen, persische Teppiche, keinerlei künstlerischen Krimskrams, keine Kommode, keinen Schrank oder Toilettentisch, nur dies außergewöhnlich geschnitzte Bett und zehn schwarze Holznägel – ich habe sie gezählt –, die in einer Reihe in die Wand getrieben worden waren und als Kleiderhaken dienten.
    Ich riss die Fensterläden auf, und nach dem grünen Dämmerlicht der Küche war es wie ein Schock, den azurblauen Himmel zu sehen, die ausgetretenen Ziegenpfade, die sich wie Kreidestriche durch die Landschaft zogen, den bläulichen Granit, der den Bach umschloss, die Erntearbeiter, die noch immer so leichthin die Sensen schwangen, als kostete es sie nicht die geringste Mühe.
    Ich fragte den Uhrmacher: »Wann wird es fertig sein?«
    Aber er war bereits verschwunden. Freudig beklommen stieg ich die Treppe hinab und hielt mich am Geländer fest, um nicht zu fallen.
    Weitere Kerzen waren angezündet worden, und die Männer saßen am Tisch; eine goldene Flamme funkelte im Haar des Jungen.
    »Sind Sie hungrig, Herr Brandling?«, fragte Sumper.
    »Machen Sie meinetwegen keine Umstände«, erwiderte ich.
    Doch Frau Helga fütterte den Herd bereits mit krachendem, gelbem Holz. Ihr Gesicht war dunkelrot.
    Herrn Sumpers Antlitz wirkte dagegen eher kühl. Mit einem Kopfnicken deutete er an, dass ich mich zu ihm setzen sollte.
    »Wie lang wird es dauern?«, wollte ich wissen.
    Er legte seine enorme Pranke auf meine Hand, als gäbe er mir damit eine Antwort.
    Ich sagte: »In England sagen wir, dass die Zeit von entscheidender Bedeutung sei.«
    »Sie sind, wie man in England gleichfalls sagt, aber auch in guten Händen.«
    »In der Tat, doch haben Sie gewiss eine genauere Vorstellung davon, wann diese Hände mit der Arbeit fertig sein werden.«
    »Eine ganz genaue Vorstellung«, erwiderte er und nahm vom Kind eine tropfnasse, grüne Weinflasche entgegen. Er verpasste dem Jungen spielerisch eine Kopfnuss, worauf Letzterer vergnügt aufjuchzte und sich wegduckte. »Ich habe eine ganz genaue Vorstellung davon, dass Sie bekommen werden, was Ihr Herz begehrt.
    »Vaucansons Ente.«
    »Ihres Herzens Begehr.«
    Er wand sich, natürlich. Ich sah zu, wie er den Wein ausschenkte, dem Jungen einen Fingerhut voll, in seinen Krug eine gute halbe Flasche.
    »Und was ist meines Herzens Begehr?«
    »Nun, dasselbe wie meines«, erwiderte er und schenkte mir ein Glas ein.
    »Spargelzeit«
, sagte er dann auf Deutsch.
    »Spargelzeit«
, wiederholte ich und hob das Glas.
    »Man könnte«, sagte der präzise kleine Arnaud, dem es überlassen worden war, sein Glas selbst zu füllen, »Spargel mit
edible ivory
ins Englische übersetzen, essbares Elfenbein.«
    »Königsgemüse«
, rief der musikalische Junge und litt es glücklich, an die mächtige Brust des Uhrmachers gepresst zu werden.
    »Das ist es, das Gemüse des Königs«, verkündete Frau Helga und stellte einen Teller mit weißem Spargel und kleinen, ungeschälten Kartoffeln vor mich hin.
    Spargelzeit
war also kein Trinkspruch. Ganz im Gegenteil, es war ein Fluch. Ich kann kein Eiweiß schlürfen, keine Leber essen, kein Hirn, Dorsch, Aal, nichts Weiches oder Schleimiges. Hätte man mir einen Teller mit Maden gereicht, wäre mir auch nicht unwohler gewesen.
    Meine Gefährten in Furtwangen ließen es sich schmecken, seufzten und machten ganz eigenartige Geräusche. Vor allem Frau Helga schien in ihren Gefühlen von diesem spektralen
Spargel
derart aufgewühlt, dass sie mich ganz verlegen machte.
    Ich wählte eine kleine, ungeschälte Kartoffel aus und schrappte die Soße ab.
    »Essen Sie«, wies mich Herr Sumper an, griff nach dem langen, weißen Gemüse, dem verschwiegenen Organ irgendeines Geistes, das er in sein von buschiger Oberlippe verdecktes Maul saugte. »Wir müssen uns noch darauf einigen, was Sie für Kost und Logis zahlen, aber bei diesem Mahl sind Sie unser geschätzter Gast.«
    Die Kartoffel schmeckte nach feuchter Jute, nackt lag der Spargel vor mir. Ich schnitt die Spitze ab, spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter.
    Sumper kniff die Augen zusammen.
    »Schmeckt’s?«
    »Sehr.«
    Er musterte mich aufmerksam.
    »Sie wissen ihn nicht zu genießen«, sagte Herr Sumper. »Ich kann Ihre Gedanken lesen.«
    Ich verbot mir jeden Kommentar. Er

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