Chemie der Tränen
zwinkerte dem Jungen zu, der daraufhin vor Lachen quiekte. Als ihm Frau Helga einen Klaps auf die Beine gab, tat er mir nicht leid. Ich schob meinen Teller fort.
»Mehr für uns«, sagte er und teilte mein Essen unter den anderen auf. Kaum hatten die Vielfraße mein Mahl verputzt, wischte sich Sumper den Mund ab und sprach hinter vorgehaltener Serviette mit Carl.
Gleich sprang der Junge vom Stuhl auf und die Treppe hinauf. An die Arbeit, dachte ich, vergaß meinen Stolz und folgte ihm.
Um die Magensäfte zu beruhigen, gibt es nichts Besseres als die Gesellschaft eines Handwerkers, der sorgsam seiner Arbeit nachgeht. Als das erste ›Porträt‹ meiner Frau in Angriff genommen wurde, ging ich oft zur Werkstatt meines verwitweten Freundes George Binns, dessen Vater Uhrmacher Seiner Majestät, der Königin, gewesen war. Inmitten all des stillen Tickens fand ich zur Ruhe. Und ich nahm an, in Furtwangen würde es nicht anders sein. Das Kind schlüpfte durch die Tür in die Werkstatt, eine große Hand aber hielt mich an der Schulter zurück.
»Sie sind der Auftraggeber«, sagte Herr Sumper, tänzelte um mich herum und verstellte mir dann den Weg durch die Tür. »Ich bin der Künstler.«
Nun, das war natürlich absurd. Er war kein Künstler, er war Uhrmacher. An Künstlern hatte ich bereits ein Übermaß an jenem Ort erdulden müssen, von dem man mich fortgesandt hatte. Vermaledeiter Schurke, dachte ich. Geschähe ihm ganz recht, wenn ich mich über ihn erbräche.
»Ich kann nicht arbeiten, wenn Sie mir über die Schulter schauen.«
Jetzt hatte ich auch noch seine Beleidigungen zu schlucken.
»Ich möchte zur Hand gehen«, erwiderte ich.
»Gut«, sagte er. »Ich habe Ihnen dies hier mitgebracht.«
Er drückte mir ein ziemlich mitgenommenes Buch von jener Art in die Hand, wie man sie bei Straßenverkäufern findet, die Seiten braun gefleckt, die Buchdeckel verbogen.
»
Das Leben des Benvenuto Cellini.
Auf Englisch. Das Buch wird Ihnen erklären, wie sehr wir Künstler schon immer unter unseren Arbeitgebern zu leiden hatten, und es verrät Ihnen, wie Sie diese wichtige Rolle angemessen ausfüllen, für die Sie sich entschieden haben. Wenn Sie mit Ihrer Lektüre fertig sind, kann ich Ihnen sagen, wann ich mit meiner Arbeit fertig bin.«
So musste ich mich erniedrigen, um mein Ziel zu erreichen, und ich, Henry Brandling, erlaubte einem ausländischen Handwerker nicht nur, sich als Künstler auszugeben, sondern musste zudem noch ohne anständiges Abendmahl zu Bett.
3
Kein Schlaf, in meinem Kopf drehte sich ein Karussell der Erinnerungen. Zum Beispiel: Am Abend vor meiner Abreise von daheim erklärte ich Percy, dass ich vielleicht erst zu Weihnachten zurückkommen werde. »Wie wunderbar, Papa«, rief er. »Was werden wir da aber für eine schöne Weihnacht haben.«
Rund und rund drehte es sich in meinem Kopf, und ich hörte sie wieder, unsere Unterhaltung am folgenden Morgen, als ich meinem tapferen, rotäugigen Jungen Lebewohl wünschte. Ich hätte Weihnachten nie erwähnen dürfen. Ich war zu launisch gewesen. Nur konnte ich ihm jetzt nicht sagen: Deinem wahren Freund zerspringt das Herz. Ich wusste keine Umstände vorzubringen, die es mir erlaubt hätten, zu ihm zurückzukehren.
»Auf Wiedersehen, dummer Papa«, hatte er gesagt.
Von wem hast du das, dachte ich. Zweimal habe ich ihn geküsst, denn ich konnte mir nicht sicher sein, dass ich ihn in dieser Welt jemals lebend wiedersehen würde.
Durch das mir zugewiesene Zimmer in Furtwangen donnerte Wasserrauschen, ein endloser Strom, das halb ersoffene Gekreisch eines blöd sich drehenden Rades.
Stunde um grässliche Stunde dachte ich an jene Abende zurück, da seine Mutter und ich frisch verheiratet gewesen waren, bis dass der Tod uns scheidet, woran ich nie gezweifelt hatte, rund und rund, und wie sie unter meinem menschlichen Gewicht erzitterte. Harter, schwerer Mann hatte sie mich verwegen genannt, rund und rund.
Eine recht lange Weile war ich ein Gott. Erst gegen Ende sagte sie jene grausamen Worte über meine Brust. Ich war dumm genug gewesen, laut zu denken, und hatte mich gefragt, ob es sein könne, dass die Amme erst unser Mädchen, dann unseren Jungen krank gemacht hatte.
»Also gibst du mir die Schuld«, zischte sie. »Wie kannst du nur?«
»Nein«, rief ich, »tausendmal nein!«
Ich sei derjenige mit Brüsten, sagte sie. Ich hätte die Mutter sein sollen, da ich es ja so offenkundig zu sein wünschte. Überhaupt sei meine Brust widerlich,
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