Chemie der Tränen
Phantasten, nicht bloß Crofty. Ein seltsam weicher Ton schwingt in Amanda Snydes Stimme mit, als sie sagt: »Ich vermute mal, das hier ist der Hals von irgendwas.«
Armer Henry Brandling. Er hat seine Ente nie bekommen. Als ich auf der Rechnung las, dass es sich um einen Schwan handelte, habe ich mich gefreut, aber hier in der Werkstatt geht davon etwas Unheimliches aus – ein Leben, ein Penis, der Hals einer Gans am Weihnachtstag. Das Ding ist gruselig, dreckig, gespenstisch blaugrau. Eine derart delikate Verbindung stählerner Wirbel bekäme im London des Jahres 2010 niemand zustande.
Sie hält mir den Hals hin.
»Nein, legen Sie ihn ab.«
Ohne ersichtlichen Grund beginne ich zu weinen.
»Ach, Sie Ärmste«, sagt sie, und mit verschwommenem Blick sehe ich, wie das Nachmittagslicht auf ihr hübsches Gesicht fällt, ihre Hoffnung, ihr Schmerz. Sie ist zu vernünftig und großmütig für diesen Raum.
»Miss Gehrig.« Und da sehe ich es, unter ihrem Haar, ein hässliches Hörgerät aus Plastik, und mir wird klar, dass eine bestimmte Beeinträchtigung an ihrem Akzent schuld ist. Deshalb hat sie nur einen Ohrstöpsel benutzt.
»Ist schon in Ordnung«, sage ich. »Ein Todesfall in der Familie. Nichts weiter.«
»Geht es Ihnen gut?«
»Bestens. Jemand ist gestorben. Mehr nicht. Passiert doch jeden Tag.«
»Darf ich eine Frage stellen?«
»Nein, dürfen Sie nicht.«
Den Rest des Tages hat sie mir auf Schritt und Tritt mit einem Notizbuch zu folgen, während ich Funktionen diktiere und ihr erlaube, Nummern zuzuordnen.
Ich unterziehe die unausgepackten Komponenten einer ersten, groben Klassifizierung – immerhin ein Anfang, auch wenn wir zum eigentlichen Apparat noch gar nicht vorgedrungen sind.
»Tragen Sie Handschuhe«, verlange ich.
»Ja«, erwidert sie und schaut mich plötzlich an. »Die Teile hinterlassen ein komisches Gefühl auf der Haut.«
Ich fürchte, sie kann meinen Schmerz in Farbe sehen, denke mir aber, das arme Mädchen wird mit allem fertig.
Catherine & Henry
Immer wieder suchte ich in den frühen Morgenstunden Zuflucht bei Henry Brandling, dessen leicht mechanische Handschrift half, die Fremdartigkeit der beschriebenen Ereignisse zu bemänteln. Seine Erzählung war faszinierend, im besten wie im schlimmsten Sinne. Soll heißen, ich fand die Auslassungen oft verwirrend oder frustrierend. Außerdem wimmelte es in seinem Bericht nur so von abrupten, irritierenden ›Szenenwechseln‹. Glaubte man, der Autor sei in die Sägemühle zurückgekehrt, war es ein Schock, über einen Satz zu stolpern, der deutlich machte, dass er auf einem Stuhl vor dem Gasthof saß. Ich stellte mir eine Art Van-Gogh-Stuhl vor, doch ob das stimmte, werde ich wohl nie erfahren.
Und dann war da Carl, der Gestalt annahm, wenn auch nicht als ganzer Körper; man sah nur einen Kratzer am Arm, Erdklumpen an den Schuhen. Henry liebte ihn zweifellos, und es machte ihn eifersüchtig, dass der Junge an Sumper hing, der ›den Kopf des Kleinen mit gefährlichem Unsinn füllte‹. Carls Spielzeug war so eigenartig, dass Henry schlussfolgerte, die einzig mögliche Erklärung sei, ›der grässliche Sumper hatte es gemacht, um mich zu quälen‹. Als Leserin zog ich die andere Möglichkeit vor, jene nämlich, dass das Kind sehr klug war und es sich folglich um seine eigenen Erfindungen handelte. Er besaß eine Plattenkamera (hatte sie selbst gebaut?) und ›vertrödelte seine Zeit‹ damit, Touristen zu fotografieren. Kein Wort wurde weiter darüber verloren, doch las man eine Zeile tiefer unvermittelt, dass Carl photovoltaische Zellen an Brandlings Füßen befestigte.
Falls photovoltaische Zelle Batterie bedeutete (was ich inzwischen bestätigen kann), dann klang dies anachronistisch, was es natürlich nicht war. Man erwartete von Henry Brandling keine Science-Fiction.
Laut Henrys Bericht legte Carl die Batterien auf den Weg, der am Gasthof vorbeiführte, und förderte eine tote Maus zutage, die er mittels Kabel an die Batterien anschloss. Die Maus sprang in die Luft, die Augen ›vor Erstaunen‹ vorgequollen, die Zähne gebleckt, um in den ungeschützten Hals zu beißen.
Dann ›flitzte‹ das ›heilige Kind‹ über trocknenden Flachs, die ›Instrumente‹ in seinem ›Beutel‹.
Über ein Jahrhundert später trank die Leserin in der Kennington Road eiskalten Wodka. Sie wandte den Blick ab von ihrem einsamen Spiegelbild im schwarzen Küchenfenster und fand das flüchtige Bild des engelsgesichtigen Zauberburschen, der
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