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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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sie gar nicht sehen kann. An einem anderen Tag würde mich das ärgern.
    Es gibt eine Unmenge Mails an seine Söhne. Ich muss sie lesen, kann sie nicht löschen.
    »Sind deine Pillen angekommen?«, schreibt er.
    »Brauchst du einen warmen Mantel?«
    »Ich hole dich um sechs Uhr früh ab. Stell dir zwei Wecker.«
    »In Liebe, Dein Dad.«
    »Liebe.«
    »In ewiger Liebe.«
    Gegen Mittag lasse ich Amanda Snyde ›auf eine Zigarette‹ allein. Als ich zurückkomme, habe ich geweint. Außerdem steckt eine neue Flasche Wodka in meiner genialen Handtasche. Meine Assistentin isst ein Eiersandwich und beugt sich über das, was sie, wie ich später erfahre, einen Frankenpod nennt, einen aus diversen Versatzstücken zusammengeschusterten iPod.
    »Wenn Sie mögen, können Sie mit den übrigen Angestellten in der Kantine essen.«
    »Ach, ich bin es nicht so gewohnt, unter Leuten zu sein.«
    »Aber Sie sind zur Schule gegangen, oder nicht?«
    Sie zieht einen einzelnen Ohrstöpsel heraus, und ich kann ein schwarzes, wogendes Bild auf dem Bildschirm erkennen.
    »Eigentlich hat mich mein Großvater unterrichtet.«
    »War er Lehrer?«
    »Eine Art Soldat.«
    »Sind Sie in London aufgewachsen?«
    »Nein, in Suffolk.«
    Ich frage nicht, wo in Suffolk. Vielleicht sagt sie Beccles, Southwold, Aldeburgh oder Blythburgh, die Litanei der Liebesnamen, die Namen unserer Orte, privat. Ich lasse nicht zu, dass sie unser privates Suffolk stiehlt oder beschmutzt.
    »Und dann Courtauld?«
    »Und danach West Dean. Ich bin mittlerweile recht zivilisiert, habe sogar gelernt, einen Schlüssel zu verwenden und so.«
    Einen
Schlüssel
zu verwenden? Tja, ich bin selbst recht merkwürdig, weshalb ich nicht zugeben kann, dass ich die Körperteile des Schwans kenne, die sie so sorgsam auf der Werkbank ausbreitet. Ich bin ein hochspezialisiertes Geschöpf und hätte von diesem Wirrwarr das meiste im Halbschlaf identifizieren können. Selbst während ich herzzerreißende Mails lese, ist es mir unmöglich, nicht das angelaufene Silber zu bemerken, Stücke, die fast wie Serviettenringe aussehen. Ich sehe die Spiegelplatten, die unter den Glasstangen angebracht werden, wie es bei dieser Art Automat durchaus üblich ist. Sie sorgen dafür, dass das ›Wasser‹ glitzert und glänzt. Die Platten auf der Werkbank befinden sich allerdings in einem eher glanzlosen Zustand. Sie müssten mit reflektierendem Blattsilber überzogen werden, das sich später natürlich wieder entfernen ließe. Ich kann auch die Spieluhrwalze nicht übersehen, ein Horologen recht vertrautes Objekt. Natürlich hat sie tausend Stifte, auch wenn ich nicht zählen mag. Die hat Herr Sumper gemacht, nicht für Henry Brandling, sondern – das ist mir klar – für sich selbst. Die meisten Stifte sind aus Messing, manche wurden jedoch durch Stahlstifte ersetzt. Ich bin überhaupt nicht neugierig, stelle aber unwillkürlich fest, dass viele Stifte an neuen Positionen angebracht wurden.
    Es ist, als ließe man ein Kind allein eine belebte Einkaufsstraße entlanglaufen, doch bin ich bei ihr, beobachte sie aus den Augenwinkeln und frage mich, wer ihr Großvater war oder ist. Wenn vornehme Leute von ›Soldat‹ reden, meinen sie meist einen Feldmarschall oder einen Spion.
    Sie fährt fort, Knochen auszugraben; ich fahre fort, meine Vergangenheit zu vernichten.
    Mitten in dieses Treiben ›platzt‹ Eric in seinem lächerlich engen, gestreiften Anzug, nichts als Hüfte und breite Schultern. Für so ein Kostüm ist es viel zu warm. Er stinkt nach dem Ivy, nach der Weinkarte, nicht nach Shepherd’s Pie.
    Ich beobachte ihn unauffällig, da ich sehen will, wie er auf die Absolventin vom Courtauld reagiert. Er tut, als sehe oder kenne er sie nicht, was ziemlich sicher beweist, dass er sie mir untergeschoben hat. Ich frage mich, ob der ›Soldat‹ zum Kuratorium gehört.
    Eric wieselt durch das Zimmer wie ein Hund durch einen Flughafen, dann stürzt er wieder nach draußen.
    Einen Moment später frage ich die Studentin: »Hat er sich gerade mit ›Toodle pip‹ verabschiedet?«
    Sie kichert.
    »Wer sagt denn ›Toodle pip‹?«
    »Bertie Wooster, glaube ich.«
    »Für Wooster sind Sie zu jung.«
    »Stephen Fry hat Jeeves gespielt«, sagt sie. »Ich habe ihn mal gesehen, in einem Pub in Walberswick.«
    Walberswick.
Delete.
    »Was glauben Sie, warum sich Mr Croft mit ›Toodle pip‹ verabschiedet?«
    Sie lächelt.
    Alle denken, es sind die Amerikaner, die sich selbst erfinden, dabei sind wir Engländer die

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