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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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ich tat, als hätte ich das nicht bemerkt, und wir fingen mit der Arbeit am Schlagwerkrechen an. Nach über hundert Jahren waren wir so die ersten Menschen, die auf den Glocken die ziemlich alchemistisch anmutenden Ziffern lesen konnten. Ein echtes Geheimnis. Wie wunderbar sich das anfühlte. Und wie schön, dass ich sie nicht bitten musste, die Scheinwerfer auszurichten, damit wir eine fotografische Dokumentation anlegen konnten. Sie hatte bereits bewiesen, wie geschickt sie mit der Kamera umzugehen wusste.
    Während sie beschäftigt war, wandte ich mich der Walze zu – manche Stifte hatte man ersetzt, aber die meisten waren Originale, was bedeutete, dass es sich bei einem Teil der Musik auch um die originale Musik handeln musste. Ich rollte die Walze über Kohlepapier und erhielt so ein Bild, das ich einscannen konnte. Mit zwei, drei Klicks sandte ich das Stiftmuster anschließend zu einem netten Kollegen im Museum für mechanische Musik in Utrecht, der die Musik auf Klavier spielen und mir bestimmt schon bald eine MP 3 -Aufnahme zuschicken würde. Ich sagte mir, dass Herrn Sumper diese Wunder wohl kaum allzu sehr erstaunt hätten.
    Es war fast sechs Uhr, ehe Amanda mit dem Fotografieren fertig wurde, doch blieb sie noch und wurde von mir zu Recht gelobt, während ich die Bilder hochlud. Sie hatte präzise und detailgenaue Aufnahmen gemacht.
    »Wissen Sie, dieses Ding«, sagte sie schließlich. »Das, mit dem ich mich nicht befassen soll …«
    »Ja, Amanda.« Ich beugte mich über den Mac und gab statt der Dateinummern genauere Bezeichnungen für die Schwan- JPEG s ein.
    »Ich hab’s mir angesehen.«
    »Es gibt Sinnvolleres, mit dem Sie sich auseinandersetzen könnten.«
    »Sie haben es einen Rumpf genannt.«
    »Ist nicht weiter wichtig. Das muss Sie nicht kümmern.«
    Man sollte vernünftigerweise eigentlich erwarten dürfen, dass ein Untergebener einen solch deutlichen Hinweis versteht, sie aber fuhr fort: »Ich habe herauszufinden versucht, ob es trotz des Gewichts der Apparatur schwimmen könnte.«
    Ich sagte nichts.
    »In Physik bin ich eine Katastrophe«, brachte sie erregt vor. »Total schlecht.«
    »Na, dann hat es sich ja erledigt.«
    »Aber es wäre doch phantastisch, nicht? Wenn der Schwan auf künstlichem Wasser in echtem Wasser schwimmen würde. Tut mir leid, ich weiß, ich gehe Ihnen auf die Nerven.«
    Ja, sie ging mir auf die Nerven.
    »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »aber es lässt mich einfach nicht los.«
    Ich erwiderte nichts.
    »Ich habe eine Zeichnung gemacht«, sagte sie und schlug ihr Moleskine-Buch auf.
    »Amanda«, warf ich ein. »Sie sind nicht mehr an der Uni, und unsere Neugierde ist nicht neutral. Wir veranstalten kein Seminar zu diesem Thema. Wir werden bezahlt, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erledigen.« Aber natürlich warf ich einen Blick auf ihre verdammte Zeichnung, die deutlich die langen Dauben und die doppelte Holzschicht zeigte. Sie hatte eine sichere Hand, überraschend selbstbewusst für einen noch so jungen Menschen, und genau das war auch das Problem mit ihrem Charakter.
    »Schwarze Kreide«, sagte sie. »Ich weiß, ziemlich anmaßend.«
    »Wieso?«
    »Ich bin schließlich kein Giorgione.«
    Ich kann gar nicht sagen, wie ungewöhnlich es ist, eine junge Konservatorin mit derart geballter Arbeitslust kennenzulernen. Mir wurde klar, dass ich nicht nur meine Arbeit machen, nicht bloß den Schwan restaurieren, sondern auch noch diese gefährliche Energie zügeln musste.
    Ich nahm ihr das Buch aus der Hand und schloss es.
    »Glauben Sie, Sie könnten es über sich bringen, einen Zustandsbericht zu schreiben? Würde das Ihren produktiven Geist eine Weile beschäftigen?«
    Ich war nicht bloß großmütig zu einer Anfängerin. Ich habe auch keinen Moment daran gezweifelt, dass ich den Bericht letztlich selbst schreiben musste, doch wenn Crafty wirklich ein Katalog vorschwebte, würde diese wunderbar detaillierte Zeichnung sehr viel mehr erkennen lassen als jedes noch so gute Foto.
    »Bitte«, sagte sie, »darf ich Ihnen etwas zeigen?«
    Begriff sie nicht, welch waghalsigen Gefallen ich ihr gerade erwiesen hatte? Nein, offenbar nicht, denn sie stand schon wieder vor dem Rumpf. Sie war wie eine Schmeißfliege im Tempel, die einzig von einem Haufen Scheiße angezogen wurde.
    »Ich glaube, das da könnte Holzfäule sein.«
    Und sie hatte recht – da war eine Stelle wenige Zentimeter unter dem, was man Vorsteven oder Kielbalken nennen könnte. Vom Pech war etwas abgeplatzt und

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