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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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mit einer winzigen ›Maschine‹ am Gasthof eintraf. Was aber bedeutete ›Maschine‹ im Jahre 1854 überhaupt? Es fällt schwer, sich einen Motor ›mit einem großen und einem kleinen Rad‹ vorzustellen, ein Gefährt, das ›eierte und holperte‹ und ›in einer Qualmwolke die Straße hinabdonnerte‹.
    Henrys größte Sorge angesichts dieser ›Tricks und hochfliegenden Pläne‹ war, dass für die Arbeit an der Ente kostbare Zeit verlorenging.
    Der trauernden Horologin, die täglich im Annex vom Swinburne arbeitete, wurde klar, dass es sich bei Sumper um einen Gauner gehandelt haben mochte, doch musste er zugleich ein überaus versierter Techniker gewesen sein. Es fiele schwer, mehr als zwei Zeitgenossen zu nennen, die auf ähnlich anspruchsvollem Niveau planten und produzierten. Angesichts des Hindernisses, das Sumpers Größe und Persönlichkeit bedeuteten, neigte Henry natürlich eher dazu, Arnauds Version zu glauben, der zufolge der Uhrmacher ein brutaler Kerl war.
    Jeden Morgen wurde mir aufs Neue bewusst, dass das nicht stimmte.
    Und was Arnaud anging, so lautete meine (recht fundierte) Vermutung, dass es sich bei ihm weder um einen Spion noch um einen Händler, sondern um einen wandernden Silberschmied handelte, dessen Identität dem Sponsor verschwiegen wurde, denn wenn Henry seinen wahren Beruf gekannt hätte, wäre ihm dies eine Warnung gewesen, dass ihm noch weit mehr Geld entlockt werden sollte.
    Dies stimmte auch mit dem überein, was täglich in der Werkstatt # 404 zum Vorschein kam und auf einen außerordentlich starrköpfigen und zielstrebigen Charakter verwies. Sumper hatte ganz offensichtlich nur getan, wozu Sumper Lust gehabt hatte, und es war verstörend, im Manuskript seines Kunden sooft das Wort ›Ente‹ zu lesen und dabei zu wissen, was die untote Kreatur gewesen war und immer sein würde: ein majestätischer Schwan – 113 Ringe aus solidem Silber und derart zusammenfügbar, dass sie einen langen Schwanenhals ergaben; jeder Ring mit einem Schwanenfedermuster verziert, alles fotografiert, vermessen, gewogen und identifiziert.
    Die Absolventin vom Courtauld arbeitete an meiner Seite und war ungeheuer fleißig, außerdem ein Tausendsassa im Umgang mit Excel, einem Computerprogramm, über das ich mich ansonsten bloß immer ärgerte. Dennoch kamen wir nur langsam voran. Allein hätte ich vielleicht sechsundachtzig Ringe am Tag geschafft, sie identifiziert und die JPEG s hochgeladen. Mit einer Assistentin brauchte ich dafür zwei Tage.
    Ich bildete mir oft ein, Herr Sumper hätte vorhergesehen, dass Amanda und ich es eines Tages mit seinem Puzzle aufnehmen würden. Zu uns war er jedenfalls viel hilfreicher, als er es jemals Henry Brandling gegenüber gewesen war, hatte er doch gleichsam eine Bauanleitung hinterlassen, als er die Ringe mit Zifferfolgen kennzeichnete.
    »Ist das hier beschädigt?«, fragte Amanda Snyde. »Ist das eine Stressfraktur?«
    Es freute mich, dass sie Kleinigkeiten wahrnahm, aber auch wenn sie unverbraucht und wissbegierig war, suchte ich immer noch nach einem Vorwand, sie wieder loszuwerden – damit ich unsere Mails lesen konnte. Das war auch der eigentliche Grund dafür, weshalb wir so langsam vorankamen.
    So fanden wir einhundertzweiundzwanzig Silberblätter, die einmal einen Kranz oder Saum um den Automaten bilden sollten. Ich ließ sie eines der Blätter in die Abteilung Metall bringen. Da gab es einen hübschen Jungen, einen von ihrem Schlag, der jeden Morgen im zu großen Mantel seines Vaters sauber rasiert und mit rosigen Wangen zur Arbeit kam.
    Bei ihrer Rückkehr teilte sie mir mit, dass der Schwan in Frankreich hergestellt worden sei.
    Das war dummes Zeug, trotzdem freute ich mich, weil dies einen weiteren Botengang nötig machte.
    »Leider«, sagte ich, »wissen wir zufällig genau, dass er in Deutschland angefertigt wurde.«
    »Woher wissen wir das?«, fragte sie, und natürlich war ich keineswegs bereit, Henrys Zeugnisse vorzulegen.
    »Ins Silber wurde die Minerva gestempelt«, fuhr sie fort. »Heißt das nicht, dass es in Frankreich verarbeitet wurde?«
    »Hat Ihnen der junge Mann geholfen?«
    »Er scheint sich gut auszukennen.«
    Ich lächelte sie an, und sie wurde rot. Es freute mich, dass ihr der Metalltyp mit dem ziemlich vornehmen, blaurot gestreiften Schlips gefiel. Würde solch ein Junge ein hübsches Mädchen mit einem Hörgerät küssen? Was für eine blöde Frage. Sie war eine Schönheit.
    »Ja«, antwortete ich, »aber der Schwan wurde

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