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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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wenn es mit seinem Plan geklappt hätte – sprang er an Bord eines Floßes und tanzte davon. »Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ich einem neuen Sternbild entgegentrieb.«
    Im Dämmer zuckelte eine Ziege einen kahlen, felsigen Anhang hinauf. »Ist mein ganzes Leben nicht ein wahres Wunder?«, fragte er.
    Er gestand, »typisch bäuerliche Vorurteile« gegen die Engländer gehegt zu haben, bis er in Avignon eine Engländerin kennenlernte und ihr nach London folgte. Als sie ihm zeigte, was ihm sein Tal vorenthalten hatte, hätte er am liebsten eine Flut ausgesandt, um den ganzen Schwarzwald ins Meer zu schwemmen.
    Ich konnte das klagende Blöken der Ziege hören; die Straße war kaum mehr als ein fahler Kreidestrich.
    Sumper aber, Sumper war in London, schon in der Zukunft der Welt. Wunder umgaben ihn, so erzählte er. Hatte ich eine Ahnung, was ein Barometer sei? Hatte ich schon einmal einen Heißluftballon gesehen? Niemand in Furtwangen hatte je einen Ballon gesehen, sagte er. Selbst wenn einer über ihnen schwebte, würden sie ihn nicht sehen. Sie seien wie die Wilden in New South Wales, die keine englischen Schiffe sahen, weil sie nicht wussten, dass es so etwas gab.
    Ob mir je in den Sinn gekommen sei, wollte er von mir wissen, dass ich womöglich auch unter einer solchen Blindheit litte? Was, wenn ich diesen Weg entlangwanderte und er plötzlich von flammendhellen Seepferdchen erleuchtet werden würde? Könnte ich dann sehen, was ich für unmöglich hielt?
    Aus der Ferne rief Frau Helgas Glocke zum Abendessen. Dies veranlasste Sumper zu der Erklärung, dass er keine falschen Verdauungsapparate baue. Er sei kein Betrüger. Er wollte mich überreden, dass ich seinen Bauch berührte, an dem er, wie er sagte, eine Narbe von einem Einschnitt habe, durch den er direkte Anweisungen erhalten hatte.
    Ich tat, als hätte ich ihn nicht verstanden, und er sah sich genötigt, mir zur tönenden Glocke hinterherzueilen.

3
    Zum Glück kamen wir an diesem Abend nicht wieder auf die Narbe zu sprechen, doch als das Essen vorbei war und Carl sowie Frau Helga sich zurückgezogen hatten, holte Sumper etwas hervor, das ich anfangs für ein Bratenstück hielt, eingewickelt in ein Stück Tuch, womöglich auch ein Ziegenbein oder ein Knochen, der dem Hund vorgeworfen werden sollte.
    Ich schrieb. Er setzte sich unaufgefordert zu mir und warf ein kleines Silberblatt auf mein Notizpapier. Ich bewunderte es ein wenig beklommen und hoffte, dass es nichts mit mir zu tun hatte.
    »Vielleicht sagt Ihnen dies mehr zu«, sagte er und wickelte langsam den großen, auf seinem Schoß liegenden Gegenstand aus. Es handelte sich keineswegs um einen Knochen, sondern vielmehr um fünf glänzende, mit Gelenken verbundene Stahlstücke.
    »Hals«, sagte er. »Für Ihren Jungen.«
    Nur war dies kein Hals einer Ente. Ich fürchte, ich geriet in Panik.
    »Bitte, mein Herr« – er umfing meine Hand –, »Sie müssen sich freuen. Sie müssen Ihr Glück feiern.«
    Mir war eher nach Weinen zumute.
    »Bedenken Sie doch«, säuselte er, »wie unwahrscheinlich es ist, dass Sie in einem zweitklassigen Hotel in Karlsruhe absteigen und dies zu dem führt, was Sie nun in Händen halten.«
    »Aber das ist keine Ente.«
    Ich vermochte ihn nicht zu beschämen. Mit Armen und Händen vollführte er einen schlangenhaften Tanz, über die Maßen gelenkig und geschickt, senkte die Arme, griff nach dem Salzstreuer und ließ ihn blitzschnell im Ärmel verschwinden. Trotz des eigenen Betrugs und Diebstahls stand er triumphierend da.
    »Der Hals ist zu lang«, beharrte ich. »Das müssen Sie zugeben.«
    Erst stieß er ein tiefes, heiseres Lachen aus, dann zog er eine eigentümlich feierliche und strahlendäugige Miene.
    »Wie im Falle des männlichen Gliedes ist dies schlechterdings unmöglich.«
    Vielleicht stöhnte ich auf, jedenfalls war ich das Opfer meiner enormen Emotionen.
    »Ich bin ein rauer Bursche, das stimmt, aber bitte beachten Sie die herrliche Arbeit, die Ihnen Ihr Geld eingebracht hat. Die Abweichungen hier betragen kaum ein hundertstel Millimeter. Stellen Sie sich das nur vor. Und sehen Sie, wie sich die Glieder bewegen, wie sie sich drehen?«
    »Aber was ist das für ein Ding?«
    »Dies, Herr Brandling, wird ein höchst außergewöhnlicher Schwan.«
    »Verdammt, Mann, sind Sie denn kein Mensch? Niemand schenkt einem Kind einen Schwan!«
    »Dann werden Sie der Erste sein.«
    »Ein Schwan ist kein Spielzeug.«
    »Nun, ich würde auch niemals Spielzeug

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