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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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gekannt hatte, längst verschwunden, weniger als ein Glühwürmchen in der Nacht, nicht einmal mehr eine vertrocknete Grille in einer Schachtel. Als ich in diesem Moment mein Glas leerte, hörte ich die Musik meiner Uhren, wie ich sie auch letzte Nacht gehört hatte. Das aufgezogene Orchester hatte mir immer Clerkenwell bedeutet, Geborgenheit, Sicherheit, Frieden. Mein Leben lang ließ ich mich törichterweise nun schon von tickenden Uhren verführen und hatte mir doch nie die Mühe gemacht, den unterschwelligen Horror herauszuhören.
    Ich suchte Henry, den lebenden Henry, den gutherzigen Henry. Wie wichtig war mir seine Gesellschaft in dieser endlosen Nacht. Ich las; er schrieb.

Henry
    Die Seiten in Sumpers Notizbuch wiesen ein schändliches Durcheinander von Fließdiagrammen und Lithographien auf, die zudem Zahnräder der unterschiedlichsten Art zeigten. Aus diesem Elsternest zog er ein dicht beschriebenes Blatt, das ein wahres Chaos von Ergänzungen über sich hatte ergehen lassen müssen. Eilfertig teilte Sumper mir mit, dass es sich dabei um eine Liste von Engeln handelte, woraufhin er das Blatt typischerweise wieder im Nest verstaute und kein weiteres Gespräch darüber zuließ.
    »Warum haben Sie es mir dann gezeigt?«
    Er deutete mit dem langen Kinn auf den Jungen, der still am Fenster saß und ein Stück Metall mit einer Feile bearbeitete.
    »Sein Name steht drin«, sagte er.
    »Ist er ein Engel? Und ich war der Ansicht, Sie hätten etwas gegen derlei Mumpitz.«
    Hätte es einen Seraph in Furtwangen gegeben, hätte er gewiss nicht so schmutzige Nägel und so merkwürdig lange Finger gehabt. Auf diesen Gliedmaßen prangten zudem mehrere Warzen, und man hatte Carl beigebracht, er könne diese ›Apostel‹ loswerden, wenn er sie mit Rosmarin abrieb. Mein eigener lieber Junge duftete den ganzen Tag lang nach Pears’ Seife, aber Carl roch nicht weniger gefällig – seiner Ankunft ging stets ein sehr irdisches Aroma voraus.
    Er war kein Engel, aber gut möglich, dass er ein kluger Bursche mit einem schön geformten Kopf war. Aus Draht formte er die Gestalt eines Rehs im Sprung. Angeblich verkaufte er derlei Figuren an den Packer. Ein ähnliches Gebilde soll bereits von einem Baron erstanden worden sein, der an einer verzehrenden Krankheit litt, und eine weitere war an einen geliebten englischen Jungen mit ähnlich gefährdeter Konstitution unterwegs. Hätte Percy mir diese Geschenke überreicht, ich hätte sie in allen Ehren gehalten, in Carls Fall aber fand ich sie eher lästig. Für mich bestand der Wert des Jungen nur darin, dass er in dieser Werkstatt die treibende Kraft war. Fehlte er, wurde langsamer gearbeitet, doch sobald er nach oben lief, klopfte der Hammer lauter, das Surren der Drehbank wurde schneller.
    Außer meinem Geschenk brauchte Percy nichts weiter. Als Carl mir seinen Würfel gab, zuckte ich zurück und hätte den Raum verlassen, wäre ich von seiner Mutter nicht an der Hand festgehalten worden. In Gedanken befand ich mich in einem anderen Land, in dem der Boden feucht schimmerte und die Luft nach Schwefel roch. Während Sumper danach griff, ritzte Frau Helga mit dem Daumennagel über die lackierte Oberfläche, wodurch sie einen Auslöser betätigte. Der Deckel flog auf, und ein fünfzehn Zentimeter großer Engländer sprang hervor.
    Mit einem Gesicht voller Haar, einem Paar vorquellender Augen und einem Zylinder auf dem großen, eckigen Kopf sollte diese lächerliche Gestalt mich selbst darstellen, einen Mann, der bereits ein Kind an die Schwindsucht verloren hatte. Ich brauchte kein Spielzeug. Ich wollte nur, dass man mich sehen ließ, wofür ich bezahlte.
    »Ich habe nicht übel Lust, zur Gendarmerie zu gehen«, rief ich.
    Sumpers Miene zeigte nur schiere Fassungslosigkeit, Helga dagegen wirkte so niedergeschlagen wie ihr Sohn. »Wir haben Ihnen doch ein Geschenk gemacht, Herr Brandling.«
    »Sie haben mir meine Pläne gestohlen.«
    »Nein, Herr Brandling«, warf der Junge ein, sein Gesicht bleich wie der Tod.
    »Wir befolgen nur Ihre Anweisungen«, sagte Frau Helga. »Sie haben uns dafür bezahlt.«
    Es behagte mir außerordentlich, ihnen solche Angst eingejagt zu haben. »Ganz recht, Frau Helga, allerdings kann Herr Sumper nicht den geringsten Beleg für seine Arbeit vorlegen. Er trödelt. Er macht sich über mich lustig. Ich dagegen sehe bloß, dass mein Geld in seiner Börse verschwindet.«
    Sumper schob sein Gesicht nahe an meines heran und kniff mir in die Wange. Ich schlug seine

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