Chemie der Tränen
komme heute Nachmittag noch einmal vorbei.« Bei diesen Worten blickte Amanda Snyde plötzlich auf, und Eric sagte: »Guten Morgen.«
»Hallo, Mr Croft«, erwiderte sie und wandte sich gleich wieder ihrer Arbeit zu.
»Haben Sie Schmerzen?«, fragte ich Eric.
Seine Blicke huschten zwischen den einzelnen Stücken auf der Werkbank hin und her, als versuchte er, sie sich für ein Erinnerungsspiel einzuprägen. »Was?«, fragte er, war aber an einer Antwort nicht interessiert.
Ich beobachtete ihn, wie er auf der Werkbank herumschnüffelte, die Silberringe begutachtete, sich jedoch nichts wirklich professionell ansah.
»Wollte nur auf einen Sprung vorbeischauen. Muss gleich weiter.« Erst dann, auf dem Weg zur Tür, schien er die Stelle mit Holzfäulnis zu entdecken, obwohl ›entdecken‹ völliger Humbug war, da man die Rumpfbeschädigung von seiner Position aus gar nicht sehen konnte und die seltsame Art, wie er den Hals verrenkte, seine Pantomime auch nicht gerade glaubwürdiger machte.
»Ich sorge dafür, dass George sich das nächste Woche einmal ansieht«, sagte ich.
»Richtig, George«, erwiderte er, doch hatte der dreiste Kerl gleich seine eigene LED -Lampe mitgebracht und bückte sich jetzt, um stirnrunzelnd in das Loch zu starren.
Mein Lachen konnte nicht besonders nett geklungen haben, nur schien er es gar nicht zu hören. Als er von seiner Untersuchung abließ und aufstand, wirkte er zugleich grimmig und schuldbewusst. Beim Hinausgehen steckte er die Lampe wieder in die Hosentasche.
Als außer seinem Blenheim Bouquet nichts mehr von ihm übrig war, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Courtauld-Absolventin, die mit ihrem Mikrometer einen Teil der Fischbahn vermaß. Das dichte, blonde Haar wurde von einer Bakelitspange zusammengehalten, weshalb es nichts gab, was das prachtvolle, dunkelrote Farbspiel an ihrem Hals verbergen konnte.
Ich hätte fragen können, ob ihr lieber Opa ein Freund von Eric Croft war, aber das schien mir nicht länger nötig. Du kleine Spionin, dachte ich. Den Rest des Tages zeigte ich ihr die kalte Schulter. Und als ich abends ging, verabschiedete ich mich nicht von ihr.
Mein Sturz in der Dusche machte mir Angst, trotzdem stand ich zur Dämmerung wie gewohnt im Weinladen der Kennington Road, wo der liebe, sanftäugige Ahmad auf dem Tresen bereits eine eiskalte Flasche Stoly für mich parat hatte. Eric mochte ›Alles in Ordnung?‹ fragen, aber Ahmad war der einzige Mensch in London, der ahnte, wie viel ich trank. Wenigstens wusste er nichts von den Uhren, die ich in den Kühlschrank getan hatte. Das fand ich ziemlich alarmierend. Schließlich war ich mit dem Ticken von Uhren aufgewachsen, und ihr Klang hatte mich stets getröstet, das Orchester ihrer Bewegungen eine allumfassende natürliche Ordnung ähnlich den Gezeiten des Meeres. Eine Uhr kaltzustellen war eine extrem brutale Tat, keine, die ich irgendwem erklären konnte.
Ich schaffte es über die Kennington Road, ohne angefahren zu werden. Kaum war ich in der Wohnung, riss ich sämtliche Fenster auf und zündete Lavendelkerzen an, um den Gestank zu vertreiben. Der Wodka wanderte ins Eisfach, wurde einen Moment später aber wieder hervorgeholt.
An der Wand unter den Fenstern war ein niedriges Bruno-Mathsson-Buchregal angebracht. Auf die normalerweise leeren Bretter hatte ich offenbar während meiner Abenteuer in der vergangenen Nacht einen blauen Holzwürfel gestellt. Warum auch nicht? Eine hübsche Farbe. Anscheinend hatte ich außerdem viel Zeit damit zugebracht, ihn ins rechte Licht zu rücken und dafür ebenjene winzige Leselampe benutzt, die Matthew bei Conran in der Marylebone High Street gekauft hatte. Nun spielte ich erneut so lange mit der Lampe, bis sämtliche Oberflächen des Andenkens schattenfrei waren.
Dann nippte ich an meinem Wodka.
Er funkelte, mein gestohlener Juwel, und wirkte dabei so überaus unzugänglich, traurig und melancholisch, eine Studie in Blau, die zudem ein wenig an jene Pantoffeln erinnerte, die ein kleiner Junge vor über dreitausend Sommernächten unter sein Bett gestellt hatte. Bald, wenn auch nicht gleich, begannen meine Gedanken Henry Brandlings Wegen zu folgen, schmalen Pfaden über die Wiese, auf der sich das Gras bog, gelb, geknickt und zerdrückt, frische Spuren, die zum kleinen hüpfenden Carl dem Hasen führten, dem cleveren, cleveren Carl, der längst so tot war, wie man nur tot sein konnte. Carl verkalkt und zerbröselt, das Hirn, das den Würfel ersonnen und
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