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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Hand fort; er lachte oder grunzte verblüfft.
    »Selbst wenn Sie der Papst wären«, zischte er. »Selbst wenn Sie Jesus Christus persönlich wären, würde ich meine Arbeit vor Ihnen verstecken. Ich muss sie erst so weit fertigstellen, dass Sie begreifen können, was Sie sehen.«
    »Es ist ganz einfach, Herr Sumper – sofern Sie keine befriedigenden Fortschritte vorweisen können.«
    Vielleicht gab Sumper Frau Helga ein Zeichen. Falls er es tat, habe ich es nicht gesehen. Zumindest war sie diejenige, die sagte: »Gut, man wird sie Ihnen zeigen.«
    Ich folgte ihnen, nicht die Treppe hinauf, sondern nach draußen in die dunkle kalte Luft der Mühle. Hier, in einer Sommerwerkstatt, die mir bislang unbekannt geblieben war, wurde auf eine wuchtige Werkbank gedeutet, frisch über dem schattigen Wasserlauf errichtet. Vor der Werkbank standen drei Holzböcke, und auf den Böcken lag ein fassförmiges Gebilde, der Rumpf eines kleinen Ruderbootes, nur zu kurz und zu gewölbt, um diesem Zweck tatsächlich dienen zu können.
    Zu viert versammelten wir uns um diese protzige Narretei.
    »Was bitte soll das sein?«
    Sumper wagte es, mit den Achseln zu zucken. »Wie schon gesagt: Sie werden es eh nicht verstehen.«
    »Stand in meinem Plan etwas von einem Boot?«
    »Habe ich Ihnen eines gebaut?«
    »Und was in Gottes Namen ist es sonst?«
    »Sie haben einen Teich«, erwiderte der lachhafte Sumper. »Dies hier ist so konzipiert, dass sein Wasser die Dollborde überspült und die Rille dort entlangfließt; die gesamte schwimmende Konstruktion wird also unsichtbar unter Wasser liegen. Drüber sieht man Ihre Ente, wie sie schwimmt und Fische frisst, die ihrerseits versuchen werden, diesem Schicksal zu entfliehen.«
    Lieber Gott, mein Junge lag in seinem Bett, die Wangen blass, das Blut Stunde um Stunde von Vampiren aufgesaugt.
    »Enten fressen keine Fische.«
    Sumper seufzte, neigte den Kopf und legte Daumen und Zeigefinger wie zur Bekräftigung an die nackte Braue. »Gänsesäger fressen kaum was anderes, aber darum geht es gar nicht.«
    »Aber ich habe gar keinen Teich«, rief ich und dachte, ich habe einen Jungen, ein liebes Kind, das ich nicht verlieren will.
    »
Irgendwas
werden Sie schon haben. Einen Teich, eine Zisterne. Sie sind ein englischer Gentleman. Habe ich nicht recht?« Und dann lächelte er wie ein Zauberkünstler im Zirkus, ich aber konnte ihm nicht gestehen, dass es im Kinderzimmer ein Schwefelbecken gab.
    »Vaucansons Ente hat Körner gefressen«, sagte ich.
    Vielleicht bemerkte er meine große Not, denn als er zu sprechen anhob, klang seine Stimme ein wenig sanfter. »Sie haben in jeder Hinsicht recht«, sagte er, »und irren nur in einem Punkt. Fragen Sie mich, Herr Brandling, fragen Sie mich, welchem Irrtum Sie unterliegen, und ich werde es Ihnen sagen – ich bin nicht Vaucanson.« Er lachte und klopfte mir wie zum Trost auf den Rücken. »Fragen Sie mich, was London ist.«
    »Sie werden es mir gewiss gleich sagen.«
    »Ja, London ist das Juwel des Himmels«, sagte mir Herr Sumper nun mit samtweicher Stimme. »Davon hatte ich nichts geahnt. Als ich Furtwangen verließ, suchte ich kein edles Los. Ich floh meinem Schicksal, das mir keine andere Wahl gelassen hätte, als ein Vatermörder zu werden. Gehen Sie ein wenig mit mir spazieren«, sagte er und reichte mir sein Taschentuch. »Ich bin nicht Vaucanson. Dem Himmel sei Dank, dass wir uns darin einig sind.«
    Mein lieber Percy, vergebe mir.

2
    Paradoxes Ergebnis unserer Auseinandersetzungen war, dass wir uns näherkamen und die Angewohnheit entwickelten, im melancholischen Dämmerlicht spazieren zu gehen. Für mein eigenes Leben interessierte er sich herzlich wenig, was mir aber nichts weiter ausmachte. Ehrlich gesagt, es war mir lieber so. Auch fand ich, was er sagte, selten langweilig. So erzählte er auf einem dieser Spaziergänge am Rand einer Schlucht, dass er einmal geplant hatte, seinen Vater umzubringen, indem er einen Baum auf dessen Bett fallen ließ. Leider (sein Wort) habe sich eine Seilrolle verkantet, weshalb der Baum aufs falsche Zimmer fiel. Das, so wisse er heute, sei die erste wahrhaft originelle Maschine gewesen, die er erfunden hatte. Auf solcherlei seltsame Weise redete er mit mir und bewies keine Reue, nur eine seltsam distanzierte Bewunderung für das eigene Genie.
    Und da ich auf sein Genie angewiesen war, wagte ich es nicht, ihn zu verurteilen.
    Nach dem missglückten Anschlag auf die Eltern – denn natürlich wären beide gestorben,

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