Chemie der Tränen
Jahre lang hatte mich diese Familie unsichtbar gemacht, selbst dann noch, als ich von ihr regelrecht überwältigt wurde, von ihren Matheproblemen, dem Gekotze. Mir war das egal. Mir machte es wirklich nichts aus.
»Er hat es uns hinterlassen.«
»Ganz richtig«, sagte ich und verschwieg meine Verbitterung sogar vor mir selbst.
»Er hätte schließlich kaum Ihren Namen in sein Testament eintragen können.«
Nun, hätte er durchaus, dachte ich, auch wenn er von mir nie drum gebeten worden wäre. »Das hätte Ihre Mutter vermutlich ein wenig seltsam gefunden.« Ich lächelte so gut es ging.
»Wir haben darüber geredet, Noah und ich. Und da wir die neuen Besitzer sind, haben wir beschlossen, dass es Ihnen gehören soll, solange Sie leben.«
Es war zu viel Gefühl im Raum, trotzdem bewahrten die beiden jungen Männer ihre Fassung, saßen beide da, die großen Hände auf die Knie gestützt.
»Man nennt es eine Pfefferkornpacht, und wir haben Ihnen den Vertrag gleich zur Unterschrift mitgebracht. Sie zahlen ein Pfefferkorn pro Jahr, mehr nicht.«
»Wir haben auch den Mini hergefahren, um Ihnen den Wagen zu geben.«
»Ehrlich? Haben Sie das alles aus eigener Veranlassung getan?«
»Ein Freund von Dad hat geholfen. Mit ihm haben wir über die Idee mit der Verpachtung gesprochen.«
»Sie reden nicht etwa von Mr Croft?«
»Er war sehr nett zu uns.«
»Auf welchen Namen hat er den Wagen angemeldet?«
Das schien keiner von beiden zu wissen.
»Er steht gleich vor der Tür.«
»Wir haben ihn gewaschen, aber es hat geregnet.«
»Das ist wirklich lieb von Ihnen, aber ich kann nicht fahren« – was nicht ganz stimmte.
»Sie könnten es lernen«, sagte Angus. »Ist überraschend einfach.«
»Und ich könnte es Ihnen beibringen«, warf Noah ein. »Ich habe ein Fahrsicherheitstraining mit Schleuderkurs und allen Schikanen absolviert.«
Ich gab keine Antwort; ich war zu gerührt, zu traurig, zu aufgebracht. Irgendwie merkten meine jungen Beschützer, dass ich kurz davorstand, in Tränen auszubrechen. Rasch einigten sie sich darauf, dass sie den Mini irgendwo sicher für mich aufbewahren würden und dass wir uns treffen wollten, um über die Fahrstunden zu reden. Ich unterschrieb den Pachtvertrag, händigte beiden je ein Pfefferkorn aus, und gleich darauf standen wir in der Bibliothek, wo ich in einer Art muffigen, stinkigen Sportlerumarmung versank. Matthew – in ihren Knochen.
Kaum waren sie fort, legte ich mich aufs Bett und dachte an den frischen Wind, der im Sommer über unsere nackte Haut gestrichen war, an die Stürme, die uns im Winter umtost, an die Nordseewellen, die an der Felsküste genagt hatten.
5
Im Annex zu dieser frühen Stunde lösche ich dich, mein Lieber, mein Geliebter, lösche dich mit deinen vollen, weichen Lippen an meinem Hals. Lieber würde ich deine Knochen bürsten und sie an offener Luft auslegen, dein Brustbein wienern und mich über dein Rückgrat hermachen, würde mit Liebe jeden Wirbel so aufmerksam putzen wie die Nase und dich ins Gras zwischen die Glockenblumen legen. Auf deinem verschwiegenen Eckchen Land wäre ich deine ergebenste Pächterin und läge neben dir, bis Regen, Wind und Stürme uns peitschten und sich wie Schuhriemen durch unsere fehlenden Augen fädelten.
Solche Gedanken und Bilder gehen mir durch den Kopf, als Amanda aus ihrer Welt hereinkommt, in der der Golf von Mexiko zu einem Ölsee verkommt. Hat sie dafür eine Mythologie, eine Kosmologie?
»Hallo«, sagt sie, sobald sie ihren Rucksack abgestellt hat.
»Hallo«, sage ich, denke delete.
Beim Aufblicken wird mir klar, dass sie einen neuen Liebhaber hat. Sie trägt indigoblaue Pluderhosen und ein ärmelloses Top wie ein Silberfischchen. Unter diesen weiten Hüllen steckt ein Körper so jung, dass man weinen möchte. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Schwan. Bitte, bitte, nicht noch mehr phantastischen Unsinn. Lerne zu sehen, was vor dir ist, hier und jetzt.
Sie sagt: »Was ich jetzt sage, geht mich eigentlich nichts an.«
Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Ich lösche einen Brief, den ich nicht mal gelesen habe.
»Ich will nur helfen.«
Ich lese, archiviere, verschiebe in den Papierkorb, lösche.
»Es tut so weh, Ihnen zuzusehen«, sagt sie.
»Es ist doch nur ein Schwan, Amanda. Eine Maschine.«
»Was Sie tun, muss keine Wochen dauern. Sie können es in wenigen Sekunden erledigen und brauchen sich nicht so zu quälen.«
Sie hält mir ein kleines Plastikding hin, das ich in meiner Angst und Wut für
Weitere Kostenlose Bücher