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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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bitte, lass ihn leben. In der eisigen Sommerwerkstatt über dem Fluss legten wir unsere Last ab.
    Ich nahm den Brief und erkannte die Handschrift meines Bruders.
    »Was gibt es für Neuigkeiten?«, fragte Helga.
    Carl wartete ebenfalls; Kaninchenblut tropfte auf seine Füße.
    Danke Gott, danke Jesus, ich werde bald bei euch sein.
    Aber nein – mein Bruder war entschlossen, mich noch länger aufzuhalten. Zwei Monate zuvor, schrieb die Spinne, sei er
zu meinem Treuhänder ernannt
worden, weshalb es nun in seiner Befugnis liege, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, welche Summen mir in welchen zeitlichen Abständen zur Verfügung gestellt werden sollten, dieser greinende, miese Schuft.
    Er behauptete, mein Vater habe ›den Verstand verloren‹.
    Natürlich war es nicht gänzlich unmöglich, dass der väterliche Verstand in ebenjenem Augenblick zusammenbrach, in dem ich zur Tür hinausging, doch war die Versicherung meines Bruders, dass mein Vater sich nicht mehr ›vernünftig‹ benehme, was mein alter Herr gewiss einen ›Heuler‹ genannt hätte. Schließlich hatte er sich niemals in irgendeinem Sinne ›vernünftig‹ benommen.
    Der rotnasige Douglas hatte ihn jedenfalls
non compos mentis
erklären lassen. Typisch Douglas, schlimmer als typisch. Zitat: »Du weißt einfach nicht ausreichend zu schätzen, Henry, dass ich ein Mann des Geschäftes bin, und zum Geschäft gehört weit mehr als das eine oder andere Eisenbahngleis.«
    Er war kein Mann eines nennenswerten Kalibers, und all die aufgeblasenen Phrasen sollten nur vertuschen, dass er in die Bank von Ohio investiert hatte. Also bitte, wer hat nun den Verstand verloren? Doug der Dussel war’s, der Brandling und Söhne in eine ›missliche Lage‹ gebracht hatte. Und nun bedauerte er, mir als meinem Treuhänder raten zu müssen – welch unerträgliche Anmaßung –, weitere Gelder erst dann anzufordern, wenn sich die ›Panik in Amerika‹ gelegt hatte.
    Sumper kehrte mir den Rücken zu. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, nur die Schulter, den grünen Mantel und die große weiße Hand, die bedauernd über die Breitseite der Feder fuhr, als wäre sie eine frisch gefangene Forelle.
    »Schlechte Nachrichten, Herr Brandling?«
    Er nahm es gelassen, nicht so Frau Helga, die weinend über die Brücke ins Haus eilte, Carl ihr dicht auf den Fersen, Blutstropfen über den Boden versprühend.
    »Sammelt Kartoffeln«, rief Sumper ihnen nach.
    Dann wandte er sich an mich und hob ohne besondere Miene zu folgender Rede an: »Das Problem mit den Reichen ist, dass sie selten die Geduld für große Dinge haben.«
    Ich nahm an, dass er an mir etwas auszusetzen fand, und entschuldigte mich, wie man es von mir ja auch erwarten durfte, doch wischte er all das beiseite. »Geht es um ihre eigenen Geschäfte«, sagte er, »wissen sie sehr wohl, was zu tun ist.«
    »Wen meinen Sie, Sir?«
    »Verlassen sie ihre Kontore oder Fabriken, etwa weil ihr Porträt gemalt werden soll, verkommen sie zu Idioten. Unfassbar, in was für einem Zustand sie sich dann befinden. Und sie gehen in ihre Clubs, um sich mit anderen Idioten zu beraten. ›Ich habe mein Porträt in Auftrag gegeben‹, bricht es aus ihnen heraus, ›und der Kerl nimmt viel zu viel Blau. Wie finden Sie das? Diese verdammte Blau raubt mir noch den letzten Nerv.‹«
    Erst da begriff ich, worauf er hinauswollte, und war ausnahmsweise mit ihm einer Meinung. Ich fand es unerträglich, dass ein Narr wie Douglas sich als Herr über Leben und Tod aufspielen wollte.
    »Sie haben das Sagen, eine andere Fähigkeit besitzen sie nicht. Es ist genau wie mit eurer Königin von England, eine Deutsche natürlich, die überhaupt nicht begreift, wo sie eigentlich lebt. Sie war es, diese Mrs Sachsen-Coburg und Gotha, die Schande über England und meine Heimat brachte, als sie die Finanzierung jener höchst außergewöhnlichen Maschine einstellte. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb ich später Prinz Albert im Buckingham Palace aufsuchen sollte.«
    »Verstehe«, sagte ich und dachte, er kann immer nur über sich selbst reden.
    »Sie sehen gar nicht überrascht aus?«
    Ich sah nicht überrascht aus, weil ich ihm keinen Moment lang glaubte. Was er sagte, war in jeder Hinsicht unmöglich.
    An jenem Abend schrieb ich Percy und bezog mich auf das, was ich ›unser Geheimnis‹ nannte. Ich versprach, trotz der ›Schwierigkeiten‹ seines Onkels und seiner Mutter wie versprochen heimzukehren und dass ich, wenn er nur brav seine Körner esse

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