Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
Vom Netzwerk:
ineinander verzahnt.
    Zugleich nannte er sein eigenes Verständnis dieser Dinge kaum besser als das eines Lebensmittelverkäufers, der eines Tages den Schwanenhals betrachten und in der Bewegung etwas derart Unerkennbares und Überirdisches sehen würde, dass ihm das Haar senkrecht vom hirnlosen Kopf abstünde.
    Mittlerweile sei er vollkommen verrückt, schrieb Henry Brandling, und es gebe keine natürliche Kraft, die den wachsenden Irrsinn zügeln oder gar aufhalten könne. Wen aber meinte Brandling mit ›er‹? Cruickshank? Sumper?
    Jedenfalls war es Sumper, der davon berichtete, dass Cruickshank an Leben auf anderen Planeten glaubte.
    Ich hatte das Gefühl, dagegen argumentieren zu müssen, schrieb Henry, auch wenn die Voraussetzungen für diese Schlacht höchst ungleich waren.
    Cruickshanks Ansichten wurden vorgeblich auch von Sir Humphrey Lucas und Mr Paul Arnold geteilt, mit dem sie in Henley eine Hammelkeule geteilt hatten. »Wie eitel wäre es doch zu glauben«, soll der große Astronom Herrn Sumper persönlich mitgeteilt haben, »dass es in ebendiesem Augenblick nicht ein ganzes Volk einer fernen Rasse sterbend in irgendeinem Winkel des Himmels gäbe.«
    »Gewiss«, wandte sich Sumper an Brandling, »können Sie nicht umhin, dem zuzustimmen.«
    Henry schrieb, ich wollte nicht zustimmen, dass Männer der Wissenschaft etwas dieser Art behaupten können. Und ich konnte allein deshalb nicht zustimmen, da ich Anglikaner bin, weshalb Sumper aus dem Zimmer stürmte. ENDLICH KANN ICH ZU BETT GEHEN , dachte ich, als Sumper zurückkehrte und schrie, wie ›dumm und eingebildet‹ es doch sei, nicht zumindest die Möglichkeit höheren Lebens unter den Sternen zuzulassen, da aber Dummheit und Dünkel zu den verbreitetsten menschlichen Krankheiten gehörten, könne er nur annehmen, dass auch die Anglikaner von ihnen befallen seien.
    »Ich habe diese Wesen selbst getroffen«, sagte er mit so lauter wie tiefer Stimme. »Ich habe sie aus nächster Nähe gesehen.«
    Henry verlangte, dass er darauf einen Schwur leistete.
    Als Sumper sich dazu nicht bereit erklärte, war es Henry klar, dass er keinerlei solcher Wesen kennengelernt hatte. Das sagte er auch.
    Sumper erwiderte: »Wissen Sie denn nicht, wer ich bin? Wissen Sie nicht, dass Sie zu mir gesandt wurden?«
    Dieser Ausbruch war so wild und erschreckend, dass ich, schrieb Henry, in sichere Gefilde fliehen und mit der Erwähnung von Cruickshanks letztem Bericht an die Große Britische Eisenbahngesellschaft abzulenken versuchte. So beruhigte sich Herr Sumper letztlich denn auch, da er umgehend und mit solchem Stolz antwortete, dass man meinen möchte, er, der Diener, habe den Bericht selbst verfasst. Kaum saß er wieder und hatte die mächtige Wade auf dem gerundeten Knie abgelegt, zählte Sumper aus dem Gedächtnis und im ermüdendsten Detail die drei wichtigsten Empfehlungen auf, nur war ich, schrieb Henry, emotional derweil so erschöpft, dass ich mir keine Mühe mehr machte, ihm zuzuhören. War ich erst wohlbehalten wieder daheim in Low Hall, mochte es lohnen, die Papiere im Schrank des alten Simpson auszugraben, wo er sie gewiss sicher verstaut hatte, gebündelt mit einer Schnur von ebenjener Farbe, die der Hauptsekretär meines alten Herrn zur korrekten Einordnung für angemessen befunden hatte.
    Als Cruickshank mit seinem Deutschen nach London zurückkehrte, erwartete ihn kein Gunstbeweis der Königin oder ihres Sekretärs. Vielmehr schrieb dem Genie ein Colonel Minns von der Palastwache, dass Ihre Majestät die Maschine nicht ihm, sondern der ganzen Nation als Geschenk vermache. Die Admiralität behauptete sodann in arrogantem Ton, dass es in die Verantwortung des Erfinders falle, besagte Apparatur an einen Ort zu transportieren, der ihm von den Untergebenen Ihrer Majestät noch zugewiesen werden würde, nur konnten Letztere nie zu der Aussage bewegt werden, wo genau dies denn sein sollte.
    Mr Cruickshank schien ausmanövriert worden zu sein, schrieb Henry Brandling, und falls dies stimmte, fuhr er fort, war es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass, so lang ich lebte, acht Tonnen Metall in einer Ecke einer Fabrik in der Bowling Green Lane Nummer 40 lagerten.
    Natürlich konnte Henry Brandling mich nicht sehen, auch wenn er erwartet hatte, einen Leser zu finden. Ich, Catherine Gehrig, war diese Leserin. Ich hatte zwischen die Zeilen gestarrt und nach Kodes und Zeichen gefahndet, hatte ins Gewirr abführender Striche geschaut, ob ich in diesem Ozean der

Weitere Kostenlose Bücher