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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Sumper und schrieb Henry, doch mit was für Gefühlen, das wusste niemand. Zugleich gab sich Cruickshank keinen Vermutungen hin – er richtete weiterhin Bittschriften an Ihre Majestät, bat sie, ganz unabhängig davon, wie ihre Entscheidung hinsichtlich weiterer Gelder für die Maschine auch ausfallen möge, doch unmittelbar zu veranlassen, dass man ihm als Gunstbeweis die fortgeschlossenen Tonnen Stahl und Messing überlasse. Das würde es ihm ermöglichen, Anteile zu verkaufen und unabhängiges Kapital aufzubringen, um die Vollendung seiner lebensrettenden Maschine zu ermöglichen.
    Da er aber nie auf irgendwen warten konnte, auch nicht auf eine Königin, begann er geradewegs, Investoren zu suchen und diktierte viele Briefe, in denen er um Kapital bat. Die hätten gleich losgeschickt werden sollen, doch wurden viele Stunden damit vergeudet, Sumpers Englisch zu korrigieren. Seine Unvollkommenheiten schienen allerdings kein Hindernis für ihre Beziehung zu bedeuten. Genaugenommen geschah es sogar in dieser Zeit, dass er zum ersten Mal zu Cruickshanks ›mein Deutscher‹ wurde.
    Mr Cruickshank war stets freundlich, sagte Sumper. Von ihm lernte ich sehr gut Englisch, auch wenn, um ehrlich zu sein, die Köchin mir gleichfalls eine recht lebhafte Lehrerin in mehr als nur einer Hinsicht wurde.
    Als der Metzger den Haushalt nicht länger beliefern wollte, ließ sich das Genie von den Direktoren der britischen Eisenbahngesellschaft mit der expliziten Aufgabe betrauen, einige der Schwierigkeiten und Gefahren bei dieser neuen Form des Reisens zu untersuchen. Er bat die Gesellschaft um die Bereitstellung eines Zweite-Klasse-Waggons, aus dem er mit Sumpers Hilfe die gesamte Inneneinrichtung entfernte. In die leere Hülle stellten sie einen langen Tisch, der solcherart montiert wurde, dass er in all seinen Bewegungen völlig unabhängig blieb. An einem Ende wurde eine ›monumentale‹ Papierrolle angebracht, die, so man sie ausrollte, fast siebenhundert Meter lang gewesen wäre. Dieser Papierstreifen wurde mechanisch auf eine zweite Rolle gewickelt, und mehrere Tintenstifte zeichneten Kurven auf, die voneinander unabhängig die Antriebskraft maßen, die vertikalen Schüttelbewegungen und noch so allerlei ›von dem Sie nichts verstehen‹. Die Kurven lieferten präzise Daten hinsichtlich Komfort und Sicherheit der Passagiere. So maßen die Tintenstifte auch die physischen Kräfte, die einen Waggon ins Rollen brachten.
    Dieser Narr, notierte Henry Brandling.
    Der Narr wusste nicht, dass Brandlings alter Herr nicht nur ein Direktor der Gesellschaft, sondern vermutlich auch persönlich verantwortlich für die Auftragsvergabe an Cruickshank gewesen war. Eben deshalb, schrieb Henry, interessierte es mich natürlich über die Maßen, wie diese Schurken die Großzügigkeit der Brandlings ausgenutzt hatten. Indem ich die familiären Zusammenhänge verschwieg, erfuhr ich mühelos, dass die beiden Spitzbuben umsonst von einem Teil des Landes zum nächsten transportiert worden waren. Was zugegebenermaßen nicht ganz ungefährlich gewesen war, da sie sich jeweils genötigt sahen, ihr Labor unter Einhaltung diverser taktischer Manöver an einen öffentlichen Zug anzuhängen – ich gebe zu, dass ich dabei nicht immer alles verstand –, um sich später wieder vom Hauptzug abzukoppeln und auf ein Nebengleis zu schießen. Wie beim Billard, dachte Henry, rote Kugel oberes Loch. In allen Fällen wurde das Loch, sprich das Neben- oder Rangiergleis sehr frühzeitig anvisiert. Es wurde sogar so gut vorhergeplant, dass Herr Sumper in einem Falle an eine Lady Lovelace schreiben musste, Mr Cruickshank und ›mein Deutscher‹ würden auf dem Nebengleis 23 A drei Meilen östlich der Gaststätte von Minehead ankommen, und da auf der topographischen Karte ebene Felder verzeichnet waren, durfte das Paar erwarten, Lady Lovelace’ Kutsche mitten am Nachmittag zu erreichen.
    So fuhren sie von Gut zu Gut und wurden von den Großen und Mächtigen unter überraschend vielfältigen Umständen willkommen geheißen. Vor allem genossen sie die Gesellschaft von Männern der Wissenschaft, die sie, nach vorheriger Absprache, in Gasthöfen und Landhäusern trafen, einmal sogar auf einem sandigen Acker.
    Infolge besagter Gespräche gelang es ihm, behauptete Sumper, sich die vollendete Maschine vorzustellen. Er behielt sie mit einer Toleranz von nur wenigen Hundertstel Millimetern im Gedächtnis und beschrieb die Spiralformenpaare wie Wendeltreppen, die Stufen

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