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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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derart enttäuscht sein würde? Ich hatte so viel Zeit darauf verwandt, mir ein rationales Gefühl des Zweifels zu bewahren, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie sehr ich diese Maschine wollte. Ich wollte Cruickshank mit seinen silbernen Damen, aber Thigpens Werkstatt war zerbombt worden, wiederaufgebaut und erneut verfallen. Und dies war nun unser Erbe: ein riesiges Nachkriegsgebäude mit deprimierenden Mietbüros.
    Von der Bowling Green Lane rief ich bei der Security an, um zu fragen, ob Amanda heute Morgen ihre Karte durchgezogen hatte.
    Hatte sie nicht.
    Die Züge waren langsam, und sie stanken. Fast zwei klaustrophobische Stunden später erreichte ich den Annex, wo mich ein großer, teurer, in Amandas Schrift an mich adressierter Umschlag erwartete.
    »Liebe Miss Gehrig, es tut mir schrecklich leid. Ich schäme mich so. Sie sind der Mensch, den ich auf dieser Welt am meisten bewundere.«
    Im Umschlag fand ich das kleine Porträt, das sie von mir gezeichnet hatte, säuberlich aus ihrem Skizzenbuch herausgerissen. Mein erster Gedanke war: Sie weiß, wie sehr es mir gefällt; mein zweiter: Sie ist im Gebäude.
    Ich mailte Eric, dass ich heute ›zu Hause lesen‹ würde.
    Die U-Bahn war noch nerviger als zuvor. Erst gegen Mittag traf ich in Lambeth North ein. Der alte weißgraue Wagen war verschwunden. Trotzdem schloss ich hinter mir ab.
    Henrys Notizbücher lagen zerfleddert quer über dem Küchentisch verstreut. Mitten drin der Würfel. Einen Moment lang wirkte er ganz normal. Dann sah ich Sägemehl und wusste, sie war auch über ihn hergefallen. Einen Elektrobohrer konnte ich nirgendwo entdecken, trotzdem hatte meine clevere Assistentin (denn wer sollte es sonst gewesen sein?) mitten durch Carls Wunder ein Loch von einem halben Zentimeter Durchmesser gebohrt. Das wäre nicht nötig gewesen. Ich hätte es ihr sagen können. Ich hätte ihr beibringen können, dass sie den Würfel nur in der Hand zu wiegen brauchte, um zu wissen, dass es sich um einen soliden Eichenblock handelte.

Catherine & Henry
    Der junge Polizist suchte den Eindringling inmitten der beschämenden Flusen unter meinem Bett. Er bat höflich um ›Zugang‹ zum Garten, wo er auf die Büsche hinwies, die ›zu meiner eigenen Sicherheit‹ ausgegraben oder gestutzt werden sollten. Ich unterließ es, ihm zu erzählen, dass der Garten mir gar nicht gehörte.
    An der Wohnungstür gab er mir seine Visitenkarte und bat mich, ihn jederzeit anzurufen. Er hatte ein liebes, junges Gesicht mit schüchtern gesenktem Blick und einen winzigen Ohrring, den ich mir bestimmt nur eingebildet habe. Er wollte mich nicht anschauen, zeigte aber auf einen braun werdenden Baum direkt gegenüber von meiner Wohnung – das, sagte er, sei eine von dreizehn Platanen in London, die man nach einem amerikanischen Astronauten benannt habe, nach Neil Armstrong in diesem Fall, er, der einst auf dem Mond spazieren ging.
    Ich dankte ihm. Er reichte mir eine weitere Visitenkarte. Kaum war er fort, packte ich meine Tasche.
    An jenem Abend bezog ich ein Zimmer in einem Pub neben dem Annex. Was für eine traurige, dumme Wahl, denn seit meinem letzten Aufenthalt dort hatte die Brauerei renoviert. Es gab nichts mehr zu riechen oder zu schnüffeln.
    Ich hing zwei Kleider auf und packte meinen Cheddar aus, Messer, Korkenzieher und eine Flasche Wein. Nahrung aufnehmen, dachte ich, verdauen, koten, wiederholen.
    Ich wickelte die Notizbücher aus, setzte mich auf den gnadenlos harten Stuhl und las. Ich las so versunken, dass mich nicht einmal der Lärm aus der Bar störte. Im Gegenteil – Frau Helga hatte Herrn Sumper erzählt, dass die Besitzerin des Gasthofs ›eine Freundin‹ sei.
    Henry berichtete, Sumper habe gesagt, das hätte zu keiner Zeit gestimmt. Er wiederholte, dass die Wirtin eine Kupplerin sei, eine Betrügerin und Lügnerin. Sie war zudem Katholikin, womit Sumper angeblich nichts Schlechtes über diese Glaubensrichtung sagen, sondern nur deutlich machen wollte, dass Frau Helga den Händen der Schenkin kürzlich einen ganz besonderen Automaten überantwortet hatte, den nahezu alle Gäste ihres Hauses beleidigend gefunden haben dürften, da sie durch die Bank, so Sumper zu Henry, die katholische Hölle fürchteten und sich an solch katholischer Pein erbauten wie etwa an jenem Gedärm, das Märtyrerbäuchen entnommen und der Baumwolle gleich auf Spindeln gewickelt worden war.
    Laut Sumper war Frau Helga eine starke Frau. Er besaß Grund genug, sie besser als Henry zu kennen,

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