Chemie der Tränen

»doch selbst Ihr, Euer Mönchheit, habt sie die Sense schwingen sehen«. In ihrem Leben habe sie viel erdulden müssen, und dabei doch meist, zumindest in Sumpers Augen, ein gutes Urteilsvermögen bewiesen. Jahr um Jahr, Sommer um Sommer, war es ihr gänzlich ohne jede Kalkulation gelungen, ein gutes Urteilsvermögen zu beweisen. »Als Sie aber, Herr Brandling, die Summen nicht länger zahlen konnten, auf die wir alle zählten, bekam sie solche Angst vor der drohenden Geldnot, dass sie ihr Urteilsvermögen verlor.«
    »Sie stahl meinen größten Schatz«, fuhr Sumper fort. »Bitte, nicken Sie nicht mit dem Kopf. Damit ist nicht etwas aus meinem Besitz gemeint, das mich viel gekostet hat, sondern ich will damit sagen, dass es kostbarer als alles war, was ich jemals angefertigt habe. Sie hat es dem hiesigen Packer zum Verkauf überlassen.«
    Sumper hat nie ganz die Möglichkeit ausgeschlossen, dass Frau Helga diesen wertvollen Automaten eines Tages stehlen könnte, doch wer hätte voraussagen wollen, dass sie ihn nicht nach Paris oder London verkaufte, wo er wenigstens seinen Markt gefunden hätte, sondern an jenes vermaledeite Weib, das vor allem dafür bekannt war, die Leiber der Frauen feil zu bieten und die ortsansässigen Uhrmacher um die Früchte ihrer Arbeit zu bringen?
    »Herr Brandling, Henry, ich habe diesen Automaten für meinen Meister gemacht, für das Genie. Er war von Natur aus das, was ich eine positive Persönlichkeit nennen möchte, doch als die Königin sein Gesuch ausschlug und die Maschine der englischen Marine überließ, litt darunter auch sein Geist.«
    Sumper schwor sich, einen Apparat anzufertigen, der des großen Mannes Herz erfreute. Er wollte den ›lieben alten Mistkerl‹ zum Lachen bringen.
    »Als Material«, fuhr Sumper fort, »kamen allein Getriebe und Zahnräder in Frage, wie sie auch von englischen Uhrmachern verwandt werden, nur habe ich die durch eigens konzipierte Achsen und Kegelradgetriebe noch verbessert. Es hat keinen Sinn, Ihnen das zu erklären. Für die Verkleidung des Automaten wurde Stahlblech genommen, das ich um eine von mir selbst erdachte Holzform gehämmert habe. Dann erstand ich ein wenig roten Samt. Zehn Quadratzentimeter. Außerdem habe ich einen kleinen, zahnradgetriebenen Blasebalg gebaut sowie ein Rohr gebogen, in dem ein schneller Luftstoß auf eine Weise gewunden, verzerrt, gehalten und freigegeben werden konnte, dass er ein dem menschlichen Lachen ähnliches Geräusch hervorbrachte. Henry«, rief er, »Ihr Vaucanson hätte dazu nicht den Verstand gehabt.«
    Henry fiel auf, dass Sumpers Zunge ›weiß wie gekochte Kutteln‹ war.
    Sumper sagte: »Ich habe meinen Automaten für das Genie gemacht, für ihn allein. Als ich ihn aufsuchte, saß er auf dem Sofa, und sein trauriger Blick hing an der Fußleiste. Da konnte ich es vor ihn hinstellen – genau da – etwa so – mein Geschenk.«
    Es handelte sich offenbar um eine knapp fünfzig Zentimeter große Jesus-Christus-Figur aus glänzendem Blech, das Gesicht bemalt. Ein ungewöhnlich blauer Seidenmantel hing von den Schultern. »Sobald ich meinen Jesus mit dem Schlüssel aufgezogen hatte, schoss er auf seinen kleinen Rädern nach vorn, drehte sich erst nach links, dann nach rechts und hielt schließlich inne. Können Sie ihn sich vorstellen, Henry? Und Sie ahnen, was als Nächstes geschieht? Nach der fünften Bewegung hindert eine verborgene Stange ein Antriebsrad an der nächsten Drehung und arretiert den gesamten Mechanismus derart, dass Jesus beide Arme weit aufreißt. Sehr lustig, wirklich. Jedermann ahnt – gleich wird Jesus die Hände zum Segen heben. Doch halt. Sehen Sie nur – der Mantel geht auf, ein großes rotes Herz kommt zum Vorschein, und das wird sofort kurzen Luftstößen ausgesetzt. Das Herz klopft, das große rote heilige Herz. Ich wünschte mir, Henry, Sie hätten die Figur sehen können, denn sie wirkte so überaus zufrieden mit dem eigenen Auftritt. Sie wandte den Kopf nach unten, um zu sehen, was geschehen war, dann zum Himmel auf, als wollte sie sagen: Seht her, ist das nicht eine tolle Vorstellung? Und mit auf und ab nickendem Kopf, die Arme erst weit geöffnet, dann wieder geschlossen, das Herz im rhythmischen Wechsel entblößt und bedeckt, beginnt Christus sich schließlich wie ein Kreisel zu drehen.«
    Der Herr vergebe meiner Judasseele, schrieb Henry, denn ich musste auch lächeln.
    In diesem Moment, erzählte Sumper, begann das Genie zu lachen, und da wusste er, er konnte den