Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
Vom Netzwerk:
Widersprüchlichkeiten und Möglichkeiten, des Wahns und Wunders, in all dem Nebel und der Verwirrung nicht ein solides, physisches Beweisstück fände, das für mich allein gemacht sein könnte: Thigpens Werkstatt in Clerkenwell lag gleich um die Ecke von Gehrig und Söhne, dem Haus meiner Kindheit.

Catherine
    In jener Nacht schlief ich mit weit geöffnetem Fenster, doch gab es keine Frische, nur die warme, müde Luft dieses unerwarteten Jahrhunderts. Gegen Morgen hatte ich einen Traum in Endlosschleife, in dem sich Cruickshanks Maschine selbst reproduzierte und meine Aufgabe darin bestand, die goldenen DNA -Stränge richtig anzuordnen und zusammenzuschrauben.
    Am Morgen war Blut auf meinem Kissen, aber Amandas Kratzer schmerzten kaum. Immerhin hatte man mir ›ziemlich viel Spielraum‹ gelassen, weshalb es für mich weder besonders nett noch besonders klug gewesen wäre, ihre Entlassung voranzutreiben. Ich wollte mich wie eine Erwachsene benehmen und nicht länger erwarten, dass man mich von den Regeln ausnahm. Ich würde die Notizhefte zurückbringen, allerdings unter der Bedingung, dass der Zugang zu ihnen eingeschränkt blieb. Selbst Crofty musste einsehen, dass es für Amanda nicht gerade hilfreich wäre, ins Reich des
Mysterium Tremendum
vorzudringen. Gerade jetzt konnte niemand von uns Wesen aus dem Weltall gebrauchen.
    Unterdessen platzierte ich alle zehn Notizhefte ordentlich mitten auf dem Küchentisch. Obendrauf legte ich ein Blatt Papier, adressiert an Eric Croft. Warum ich das tat, ist mir bis heute unklar, vielleicht aus der Vorahnung heraus, dass ich nie mehr hierher zurückkehren würde, auch wenn das keinen Sinn ergab – schließlich wollte ich nichts Drastischeres tun, als zur Bowling Green Lane zu gehen. Und ich war in jener Gegend aufgewachsen.
    Rechnete ich damit, dass sich Thigpens Werkstatt immer noch in der Bowling Green Lane befand? Ich hatte ein sehr deutliches Bild vor Augen von dem weiten hohen Raum, der sich bis hinüber zur Northampton Road erstreckte, vom Stahl- und Messingleviathan, der unter schmutzigem Londoner Himmel blitzte.
    Mit der U-Bahn hinzufahren war leicht. Lambeth North, Baker Street, Farringdon. Warum nicht? Was konnte es schaden? Und was könnte schlimmer sein als das, was ich bereits herausgefunden hatte, dass nämlich aus dem Haus meiner Kindheit ein Videoladen für Pornofilme geworden war?
    Als ich nach draußen ging, fiel mir ein Auto auf, das vor der Tür meines Nachbarn mit der rostigen Schnauze quer auf dem Gehweg parkte. Natürlich waren die Mieter der oberen Wohnung mal wieder im Urlaub, aber dieses merkwürdige Auto, das einmal ziemlich nobel ausgesehen haben musste, war inzwischen ziemlich heruntergekommen, alt und grauweiß mit Trittbrett und verrosteten Kotflügeln. Ich fürchtete, auf dem Rücksitz jemanden liegen zu sehen. Tot, dachte ich. Dann bewegte sich die Leiche, und das fand ich noch schlimmer. Es waren sogar zwei, da meinte ich mir sicher zu sein, zwei, die sich wie Maulwürfe unter einer Decke bewegten.
    Die Polizei zu rufen wäre mir peinlich gewesen, also schloss ich die Wohnungstür ab und eilte über die Kennington Road davon. Ich hätte mir allerdings das Nummernschild notieren sollen.
    Vor der Station Lambeth North stand auf Zeitungsplakaten: FLUT DER ANGST , daneben ein Farbfoto vom Golf von Mexiko, ein kompaktes, schwarzes Zentrum mit rostrotem Rand inmitten einer korallenblauen See.
    Der Zug schob eine Welle heißer Luft vor sich her. Ich stieg ein. Der Kratzer in meinem Gesicht wurde bemerkt, auf jene besondere britische Weise registriert, zu der kein Gran Mitgefühl gehört. Ich stieg in die Central Line um und in Farringdon aus, wo ich feststellen musste, dass die Station umgebaut wurde – provisorische Rampen und Wege, außerdem Bauzäune und immer wieder FLUT DER ANGST .
    Draußen, auf der Farringdon Road, befand sich eine weitere Baustelle. LKW s, Kleintransporter und Motorräder, dazu Zeitungen, die wie Möwen über einem Abfallhaufen flatterten.
    Ich hielt den Atem an und ging nach Norden, bog direkt in die Bowling Green Lane ein, eilte am Pub vorbei, dem
Bowler
, und befand mich jetzt mitten in Henry Brandlings Puzzle. Ich spürte, wie an der Hüfte mein Handy vibrierte, und da sah ich Bowling Green Lane Nummer 40 : FINSBURY BUSINESS CENTRE . Hier war zwar Clerkenwell und nicht Finsbury, aber dort stand es, erbaut ein Jahrhundert, nachdem Sumper zum ersten Mal diese Adresse aufgesucht hatte.
    Wer hätte gedacht, dass ich

Weitere Kostenlose Bücher