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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Mann retten und folglich sich selbst, denn jetzt konnte er in der Zukunft der Welt Großes vollbringen.
    Als Nächstes begann die heilige Gestalt zu wackeln. Oje, was war passiert? Jesus verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Und der alte Mann dachte natürlich, die Apparatur hätte versagt, also beugte er sich vor, um die Figur von den Toten auferstehen zu lassen.
    Doch in ebendiesem Augenblick begann Jesus, sich lachend hin und her zu wälzen, und genau aus diesem Grund, sagte Sumper, habe er den Sohn Gottes geschaffen. Waren die Arme weit offen, wurde der Körper angehoben, dann rollte er und zeigte das heilige Herz, und anschließend erscholl aus seiner Brust ein Gelächter, dem der alte Mann nicht widerstehen konnte.
    Herr Sumper war satanisch, schrieb Henry. Ich fürchtete mich vor seinem Einfluss. Aber als er mich mit feuchtem Blick und etwas unsicherem Lächeln ansah, erinnerte er mich nicht an den Teufel, sondern an das Gesicht meiner Frau, als die zum ersten Mal unsere Alice in den Armen gehalten hatte.
    So, erzählte Sumper, konnte er das Genie ins Leben zurückholen. Er hatte eine Medizin zusammengebraut, die, wenn nur häufig genug angewendet, die Heilung nach sich zog.
    Heilung, unterstrich Henry.
    Endorphine, dachte Catherine.
    Während Sumper seinen Jesus Christus baute, hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, wie er Königin Victoria den ›Folianten ertrunkener Untertanen‹ seines Brotherrn vorlegen könnte. Dies war Phase zwei. Sie begann unverzüglich.
    »Sie haben geglaubt, was Prinz Albert angeht, hätte ich gelogen, mein Herr aber kannte meinen Charakter. Als der Alte von meinem Plan hörte, zweifelte er keinen Moment daran, dass ich der festen Überzeugung war, die Königin kenne den großen Zweck der Maschine und verstünde, wie viele ihrer Untertanen durch sie gerettet werden könnten.«
    Zu Recht fürchtete das Genie um Sumper. Und es beruhigte ihn auch keineswegs zu erfahren, dass ›mein Deutscher‹ bereits bei drei früheren Gelegenheiten ein Besucher im Buckingham Palast gewesen war, zweimal in mondheller Nacht. Sumper zeigte ihm daraufhin den Hochsprungstab, den er eigens konstruiert hatte, zusammengesetzt aus zehn, durch Metallmuffen miteinander verbundenen Teilen. Dann zeichnete er einen ungefähren Plan jener Bereiche des Palastes, in denen er Ihre Majestät zur Rede stellen wollte.
    »Das Genie sagte: ›Man wird dich zumindest deportieren.‹«
    Sumper konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als von Cruickshank getrennt zu sein, nur wollte er sich auch nicht von der Furcht beherrschen lassen. Er war ›berufen‹ worden, und er hoffte, lange dienen zu dürfen; im Haus Soho Square Nummer 16 fand er sich allerdings auch damit ab, dass sein Dienst kurz wie die Lebensspanne eines Schmetterlings sein könnte.
    »In diesem Moment«, sagte er, »verstand ich den Sinn meines Lebens.«
    In meinem Zimmer über dem Pub tauchte ich, Catherine Gehrig, wieder auf. Es war um Mitternacht, und unten auf der Straße wurde gestritten.
    Ich hätte dem Ort, an dem ich lebte, mehr Aufmerksamkeit schenken können, doch hatte ich mir erlaubt, Bewohnerin einer imaginären Welt zu werden.
    Henry schrieb, Sumper redete. Er sagte: »In England hatte ich hochgestellte Männer kennengelernt. Sie waren groß genug, ihre menschliche Kleinheit zu verstehen, und folglich bereit, ihrerseits Wesen mit unendlichem Wissen und von unendlicher Bedeutung zu dienen. Sie waren meine Vorbilder.«
    Der Deutsche hatte sich bereits über meinen Gott lustig gemacht, schrieb Henry, weshalb ich mich kühl danach erkundigte, wer denn diese Höheren Wesen sein sollten. Statt zu antworten, beschrieb er, wie er den Folianten ertrunkener Untertanen in Ölzeug wickelte und sich auf den Rücken schnallte, ehe er Soho Square verließ. Über den Abschied an jenem Abend verlor er kein einziges Wort. Offenbar ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, welch persönliches Desaster ihn erwarten mochte, machte er sich auf den Weg zum Palast.
    Auch über den angeblichen Hochsprungstab wurde nichts mehr gesagt. Dem Herrn sei Dank, schrieb Henry, der sich sichtlich darum sorgte, was er nun eigentlich glauben durfte.
    Zwanzig Zeilen später hatte irgendein Anhaltspunkt den Schreiber veranlasst, seine Meinung zu ändern. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es die sternförmige Narbe an Sumpers Unterleib, die er zuvor so abstoßend gefunden hatte. Nun schien sie ihm die Folge einer ehrlichen Verletzung zu sein, die der Mann bei

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