Chemie der Tränen
seinem hirnrissigen Sprung über die Palastmauer erlitten hatte.
Falls der Uhrmacher den Schmerz oder die Verletzung beschrieb, hatte Henry in seinen Notizen nichts davon festgehalten. Allerdings zweifelte er auch nicht länger daran, dass es dem ›Lügner‹ nicht nur geglückt war, Zugang zum Palast, sondern sogar die Aufmerksamkeit des Prinzen Albert zu erlangen, der sich nicht etwa in einem Empfangssaal oder gar im Arbeitszimmer aufgehalten, sondern lesend im Bett gelegen hatte. Impertinent, schrieb Henry, und fügte hinzu, die größte Barriere zwischen der Bevölkerung einerseits sowie Prinz und Königin andererseits sei nun einmal der Glaube des gemeinen Volkes, dass es vollkommen und ausnahmslos unmöglich war, Zugang zu ihrem Monarchen zu gewinnen.
Als der Prinzgemahl von seinem Buch aufblickte und direkt dorthin starrte, wo Sumper stand, scheint er nur wahrgenommen zu haben, was er zu sehen erwartet hatte – in diesem Fall wohl einen dick gepolsterten, roten Sessel.
Es brauchte tatsächlich ›die kraftvollste Taktik‹, so Henry, um die Aufmerksamkeit des Prinzgemahls zu wecken. Wer könnte sich vorstellen, wie es sein mochte, in den Schuhen des Herrn von Sachsen-Coburg und Gotha zu stecken? Glaubte er, ein Poltergeist hätte nach seinem Buch geschnappt, um es ihm aus den Händen zu reißen? Was erwartete er, in dem in Ölzeug gewickelten Paket vorzufinden, das das blutende Phantom nur allzu bald auf seinem Bett auspackte?
Der Foliant mit den Namen der Ertrunkenen war offenbar von solcher Größe, dass man ihn beim Lesen zu zweit halten musste. Welche Furcht empfand der Prinz, als sich der verletzte Fremde neben ihn legte und verlangte, Seine Königliche Hoheit möge laut die auf jede Seite geklebten Notizen vorlesen?
»Er wirkte sehr distanziert und förmlich«, sagte Sumper, »bis wir zu dem Bericht über ein bestimmtes Schiffsunglück kamen, in dem er den Namen einer der Ertrunkenen wiedererkannte. Seine kleine Nichte, sagte er. Als er daraufhin zu weinen begann, nahm ich natürlich an, dass dieser Tod durch Ertrinken der Anlass seines Kummers war. Ehrlich gesagt, ich freute mich. Es ließ mich hoffen, dass ich seine Unterstützung für den Bau der Maschine gewinnen konnte. Berücksichtigt man jedoch, was danach geschah, scheint es wohl eher wahrscheinlich, dass der Feigling weinte, weil er sich fürchtete.«
Diese Ansicht basierte auf einer kurzen Unterhaltung zwischen dem Prinzgemahl und Königin Victoria, die nun in ihrem Nachthemd in der Tür erschien. Auf Deutsch bat sie Prinz Albert, ihr die Anwesenheit seines Bettgefährten zu erklären, wofür sie allerdings ein deutlich deftigeres Wort benutzte.
»Da wir uns in dieser Sprache unterhalten hatten«, erzählte Sumper, »wusste der Prinz natürlich, dass ich seine Frau verstand. Er antwortete auf Französisch, dass ich im Begriff stünde, ihn zu ermorden, woraufhin die Königin die Tür schloss und fortging.«
Eine ›erstaunlich lange Zeit‹ verstrich, ehe Sumper die Palastwache im Gleichschritt herbeilaufen hörte. Sie gaben auf dem Marmorboden eine gar prächtige Vorführung mit allerhand Hackenschlagen ab, doch erst, als man ihn rüde ergriff, scheint sich Sumper damit abgefunden zu haben, dass sein Plan gescheitert war.
Selbst dann aber fand er offenbar noch Anlass zur Hoffnung. Soll heißen, man rief den Leibarzt des Prinzgemahls und brachte ihn, nachdem er zusammengeflickt worden war, in ein Zimmer im Palast, aus dem »bis auf die Gitterstäbe vor den Fenstern die Aussicht sehr gut war«.
Zu dieser Zeit hatte Sumper keine Ahnung, wie sein Abenteuer von der Nation aufgenommen werden würde. Erst später erfuhr er, dass die Königliche Familie es unklug fand, verlautbaren zu lassen, dass ein weiterer Deutscher im Buckingham Palast eingekehrt sei. Es hatte bereits zwei frühere Anschläge auf Ihre Majestät gegeben, den ersten von einem unzufriedenen Iren, der eine mit Schwarzpulver gefüllte Pistole auf die Kutsche der Königin abgefeuert hatte, als sie am Constitution Hill vorbeifuhr; den zweiten von einem ehemaligen Offizier der Armee, der den Verstand verloren hatte und die Queen mit seinem Rohrstock schlug, wovon ihr die Haube eingedrückt wurde und sie (die Queen – wie Henry von seiner Mutter wusste) blaue Flecke an Armen und Schultern zurückbehielt.
Beide Männer wurden nach New South Wales geschickt, Sumper aber war es nicht beschieden, zu einer Goldmine außer Landes transportiert zu werden. Anfangs wurde er gut
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