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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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nicht, war es zudem leid, nach zwei Jahrtausenden kriegerischer, prunkvoller, gnadenloser Demonstration der Macht nun plötzlich (vor allem von den Sozialdemokraten) in die soziale Ecke, in das Abseits der Nächstenliebe gestellt zu werden.
    Auf jeden Fall verlor der Invalide Cheng jeglichen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Das waren nun mal nicht die Zeiten, in denen ein Mann eine Chance hatte, dem ein Arm fehlte, im anderen ein metallener Wurm bohrte, dem ein Bein zu schaffen machte, den seine Hörkraft verließ, der als Detektiv gescheitert war, als Chinese galt und der immer stärker der lähmenden Kraft des Alkohols zusprach. Es war Berti, der Cheng über Wasser hielt. Eines Tages holten sie Berti. Warum, sagten sie nicht. Aber das kümmerte auch niemanden, nicht einmal Berti. Alles war ganz selbstverständlich. Man wurde einkassiert, so wie man einst entlassen wurde. Ohne großes Gerede. Man verschwand. Man war wie nie gelebt. Am Ende blieb nicht einmal ein Punkt.
    Cheng wurde langsam nüchtern. Nicht weil sie Berti mitgenommen hatten, sondern weil nun kein Berti mehr den billigen Schnaps anschleppen konnte. Und selbst war Cheng außerstande, irgend etwas anzuschleppen. Eine Nachbarin nahm ihn bei sich auf, eine gottesfürchtige Prohibitionistin, die dem Alkohol die Hauptschuld an allem gab und froh darüber war, den schönen langen Tag Cheng zuzusehen, wie er unter dem Entzug litt. Wäre er gestorben, sie hätte ihn ausgestopft (sie besuchte gerade einen Kurs). Er starb aber nicht, denn die versalzenen Einbrennsuppen, die sie ihm einflößte, richteten ihn tatsächlich auf. Eigentlich gegen seinen Willen. Aber zunächst war er zu schwach gewesen, um sich zu wehren, und dann schlichtweg zu gesund, um gleich wieder zu erkranken.
    Irgendwann holten sie auch Cheng. Sie brachten ihn zum Personalbüro der Österreichischen Überseeischen U-Bahn-Vertriebsgesellschaft, wo man ihm anbot, ihn nach Kunming zu entsenden, um die dortige U-Bahn zu reinigen. Seine Behinderung sei nicht von Bedeutung, wichtig nur sein asiatisches Aussehen. Österreichischer Paß, chinesische Visage – das seien die Leute vom Reinigungstrupp. Natürlich hätte Cheng den Job ablehnen können, aber dann wäre er wie Berti ohne Komma und Punkt verschwunden, auch kein Unglück, doch die vielen Einbrennsuppen hatten ein wenig Lebenswillen in seine Seele gebrannt, weshalb er seine Unterschrift gab, diverse Immunseren verabreicht bekam, ein neues Gebiß, eine phantasielose Frisur, dann einige Tage und Nächte in einem ehemaligen Studentenheim herumhing und schließlich von der Arbeitspolizei nach Schwechat gebracht und in einen Flieger gesteckt wurde, der ihn nach Kunming brachte.
    Für einen Mann wie ihn, der eigentlich zum Ausschuß gerechnet wurde, hatte er es gar nicht so schlecht getroffen. Obwohl er bereits seit Jahren durch die Stationen der Kunminger U-Bahn schlurfte, kehrend, staubsaugend, hatte er sich keine weiteren Verletzungen zugezogen, nicht einmal das Nasenbein gebrochen. Hin oder wieder explodierten sogar Bomben in den Gängen und Hallen (die linke Guerilla war der Stolz der Stadt, drüben in Europa regte sich nicht einmal mehr ein einziges Flugblättchen), aber Cheng erlebte die Gunst späten Glücks, blieb stets unbeschadet.
    Die zehn Stunden mußte man eben aushalten. Wichtig war, daß ihm auch während der Arbeit ein paar Schnäpse zustanden. Das brachte keinen um. Zudem bereitete sich Cheng täglich eine Einbrennsuppe, reine Salzseen. Das pampige Zeug machte ihn nüchtern, wieviel er auch getrunken hatte. Wenn es ein Problem gab, dann war es die Hitze, die in den Stationen herrschte, dazu die staubige Luft. Das Lüftungs- und Heizungssystem war bekanntermaßen der Schwachpunkt österreichischer U-Bahnen, und in Kunming war besonders gepfuscht worden. Den ganzen Tag oder die ganze Nacht dort unten zu sein machte die Männer schummrig, manche wurden blöde, was nicht störte, solange keiner zusammenbrach. Und es brach keiner zusammen. Dafür sorgte der Betriebsarzt, der Leuten mit orangefarbenem Zungenbelag, oder denen die Augen langsam aus den Höhlen tropften, ein paar Injektionen verabreichte. Danach hatte man zwar Durchfall, der aussah wie die Flagge von Großbritannien, und einige der Arbeiter rochen, als hätten sie in Franzbranntwein gebadet, aber man war wieder imstande, den Besen gerade zu führen und ein wenig auf die Passanten zu achten. Denn es war unmöglich, auf die ruhigeren Nachtstunden zu warten, zuviel

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