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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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abzulaufen, was leider nichts daran ändert, daß es hin und wieder sehr schnell vorbei ist. Cheng sah dem fliegenden Blumenstrauß nach, und der süße Schrecken der Erkenntnis fuhr ihm ins Genick. Irgend etwas drängte ihn, einen Schrei auszustoßen, um Grobfeld zu warnen, und irgend etwas drängte ihn, darauf zu verzichten, weil ihm eigentlich ziemlich egal war, was mit Grobfeld geschah, und irgend etwas drängte ihn, sicherheitshalber in Deckung zu gehen, da er ja die Wirkung der Bombe, die wohl in diesem Blumenstrauß steckte, nicht voraussagen konnte. Das Fatale an der Sache mit der Zeitlupe ist, daß man sehr lange zusehen kann und sehr lange über das Gesehene nachdenken kann, aber (physisch gesehen ja selbst ein Opfer der gedehnten Zeit) nicht in der Lage ist, ebenso rasch zu reagieren. Was natürlich vor allem für Kammersänger Grobfeld tragisch war, der nun in Zeitlupe den Blumenstrauß auf sich zufliegen sah, was ihn zunächst einmal mit orthodoxer Freude erfüllte. Er war solchen Liebesbekundungen seiner Fans keineswegs abgeneigt. Weshalb ein gönnerhaftes Lächeln seine Lippen verzierte. Weil sich der Blumenstrauß nun aber in Zeitlupe näherte, hatte Grobfeld genug Zeit, die ungewöhnliche Größe und Dichte dieses blühenden Arrangements zu konstatieren und sich in der Folge gewisse Gedanken zu machen.
    Der Tod seiner Freunde war ja schließlich nicht geeignet, das Leben nur von seiner musikalischen Seite zu betrachten. Die Richtung, in die seine Gedanken nun gingen, fand eine weitere Unterstützung, als er in das Gesicht der Blumenstraußwerferin sah – und was er sah, hatte sicher nichts mit der fanatischen Anhänglichkeit seiner weiblichen Fans zu tun; in diesem Gesicht lag etwas wie Befriedigung, nicht Triumph, aber die Befriedigung, etwas zu Ende gebracht zu haben. Grobfeld konnte also beim besten Willen den Gedanken nicht unterdrücken, daß sich in diesem Blumenstrauß so etwas wie eine böse Überraschung befand, etwa eine Bombe oder sogar exakt eine Bombe, und daß er, indem er sie auffing, sie gleichzeitig auslösen würde. Wie gesagt, die Sache mit der Zeitlupe hat etwas Teuflisches – Grobfeld hatte eine halbe Ewigkeit Zeit gehabt, um zu erkennen, daß dieser Blumenstrauß kein Zeichen der Verehrung darstellte, sondern ihn möglicherweise in ziemlich viele Stücke zerreißen würde. Das schlimmste daran war, daß der Blumenstrauß noch etwa die Hälfte seines Weges zurückzulegen hatte, und doch konnte Grobfeld nicht verhindern, daß er ihn auffangen würde, denn sein Körper war in der Echtzeit gefangen, er würde vielleicht gerade noch einen Ausdruck der Bitterkeit in sein Gesicht zwingen können, mehr nicht.
     
    Grobfeld behielt recht. Er fing den Blumenstrauß, der im selben Moment explodierte. Immerhin: Alle, die dabei waren, hatten noch nach Jahren etwas zu erzählen. Grobfeld wurde übrigens von einer Bombe russischer Bauart zerfetzt (der russische Präsident, selbst ein Grobfeld-Verehrer, zeigte sich untröstlich). Wie es sich gehört, setzte man den begnadeten Liedinterpreten in einem Ehrengrab des Zentralfriedhofes bei, sinnigerweise zwischen Geissler und Eberle (Lukaschek lag in seiner Familiengruft im steirischen Eibiswald, Thomson auf dem Friedhof seiner Heimatstadt Seymour, und Chaloupka war in Aspern gelandet, Ranulph Field war schlußendlich doch wieder in die Obhut seiner Eltern geraten und ruhte am Rande von Adelaide, mit Blick auf die Mount-Lofty-Kette).
    Wie man nun auch immer dazu stehen mag, daß sich jemand für ein derartiges Attentat ausgerechnet einen der schönsten Wiener Konzertsäle aussucht, so muß erwähnt werden, daß die Baumann dabei so geschickt vorgegangen war, daß es zwar Grobfeld auf eine ziemlich drastische Weise zerriß, aber sonst niemand zu größerem Schaden kam (auch nicht Ernest Bozek, langjähriger gequälter Klavierbegleiter Grobfelds, für den ein ebenso langjähriger Traum in Erfüllung gegangen war).
     
    Im Moment der Explosion ging Cheng zu Boden, wild entschlossen, keinen einzigen Körperteil mehr abzugeben. Dabei fiel ihm sein Hörgerät heraus, und die Detonation fuhr ruhig wie eine Märklineisenbahn durch seine Gehörgänge. Er zog den Kopf ein und schloß die Augen. Die Dunkelheit zeigte ein tiefes, samtenes Violett. Es erinnerte ihn an die Vorhänge in Geisslers Arbeitszimmer, hinter die er nicht getreten war, und er überlegte, ob Geisslers Schrecken weniger tödlich gewesen wäre, wenn er, Cheng, zuerst den Vorhang hätte

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