Meine zwei Halbzeiten
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|7| Erste Halbzeit – Die Flucht
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Fahrkarte in der Socke
|10| Flughafen Berlin-Schönefeld, 25. März 1979. Nach fast drei Jahren «West-Verbot» durfte ich meine Fußballmannschaft nach Jugoslawien begleiten – aus DD R-Sicht so etwas wie ein «kapitalistisches Ausland», für mich das Tor zu einem anderen Leben. Titos Vielvölkerstaat mischte sozialistische
Wirtschaftsprinzipien mit marktwirtschaftlichen; zudem war das Land außenpolitisch neutral, seine Grenze nach Westeuropa nicht
so abgeschottet. Deshalb bekamen nur diejenigen DD R-Bürger eine Ausreisegenehmigung dorthin, die besonders privilegiert, linientreu und möglichst verheiratet waren. Zumindest die letzte
Voraussetzung konnte ich nicht erfüllen.
Seit meiner Scheidung hatten mich die Sportfunktionäre für ungeeignet gehalten, jungen Spielern ein sozialistisches Vorbild
zu sein, gingen sie davon aus, ich würde Republik und Partei verraten, indem ich im Westen blieb, wenn sich eine Möglichkeit
bot. Es grenzte fast an ein Wunder, dass ich an diesem Montag mit dabei sein durfte. Immerhin galt es, den «Klassenauftrag»
zu erfüllen. Mit einem Sieg meiner U23, der Nationalmannschaft der unter Dreiundzwanzigjährigen, zu zeigen, dass der Sozialismus
dem Kapitalismus überlegen war. Das war mir jedoch völlig gleichgültig. Mich interessierte genau das, was man jahrelang zu
verhindern gesucht hatte: eine Flucht in die Bundesrepublik. Ich wusste nur nicht, wie ich es anstellen sollte.
Noch auf der Gangway ins Flugzeug dachte ich, gleich würde mich einer der Sportfunktionäre zurückpfeifen, es wäre nicht das
erste Mal gewesen. «Ausdelegieren» war die offizielle Bezeichnung für dieses Vorgehen. Den Spielern musste ich in solchen
Fällen Lügen auftischen, Lügen, mit denen ich nicht mehr leben wollte. Sie sollten dazu beitragen, dass die Mannschaft durch
meine plötzliche Abwesenheit nicht verunsichert wurde, die bevorstehende Begegnung mit einem Feind-Verein verlor. Aber diesmal
erschien niemand, um mich aus dem Flieger zu holen.
Die Maschine war klein, wir mussten eng beieinandersitzen. |11| Begleitet wurden wir von einer Delegation, mit der ich noch nie unterwegs gewesen war. Wolfgang Riedel, der Leiter, galt als
hundertfünfzigprozentig parteitreu und war ein perfekt geschulter Hardliner. Auf mich machte er keinen angenehmen Eindruck,
eine Zusammenarbeit mit ihm schien nicht leicht zu sein. Ihm zur Seite stand Klaus Petersdorf, das absolute Gegenteil von
Riedel. Schon äußerlich passten die beiden nicht zusammen. Petersdorf war groß gewachsen, gut aussehend und hatte einen freundlichen,
sympathischen Gesichtsausdruck. Es zeigte sich dann auch, dass man mit ihm zurechtkommen konnte.
Als ich die Mitteilung erhielt, dass ich als Trainer bei dem Länderspiel gegen die jugoslawische Mannschaft dabei sein würde,
stand für mich außer Frage: «Diese Möglichkeit lässt du dir nicht entgehen, um abzuhauen.» Doch kurz darauf erfuhr ich etwas,
das mir für einige Nächte den Schlaf raubte. Lutz Eigendorf, zweiundzwanzigjähriger Spieler beim BFC Dynamo und eines der
größten Talente der DDR, war fünf Tage zuvor, am 20. März, von einem Freundschaftsspiel beim 1. FC Kaiserslautern nicht zurückgekehrt. Es hieß, «sportfeindliche Kräfte» aus dem NSW, dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet,
hätten ihn abgeworben. Als ich das hörte, dachte ich nur: Ist der verrückt, muss der gerade jetzt flüchten? Eigendorf war
doch bei genügend internationalen Begegnungen dabei gewesen, um dies schon früher tun zu können.
Seit diesem Vorfall wurde von ihm als einem «Verbrecher», einem «Verräter», gesprochen, der die Republik und den Fußball im
Stich gelassen hätte. Und es war klar: Wir hatten in Jugoslawien mit schärfster Überwachung zu rechnen – nicht die beste Ausgangssituation
für mich.
Nach einem gut zweistündigen Flug landeten wir bei warmer Märzsonne in Belgrad. Die Passkontrolle verlief ohne Schwierigkeiten,
anschließend stiegen wir in einen Bus, der uns nach Subotica bringen sollte, dem Austragungsort des Länderspiels. Unsere |12| Delegation war inzwischen um drei Genossen vergrößert worden, bestimmt Sicherheitsleute – eine Auswirkung von Eigendorfs Republikflucht.
Subotica lag ungefähr zweihundert Kilometer nördlich von der jugoslawischen Hauptstadt entfernt; die Ortschaft befindet sich
heute in Serbien, nahe der ungarischen Grenze.
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