Cherryblossom - Die Zeitwandler (German Edition)
Zeitpläne und du wirst klitschnass«, sagte er ruhig, tippte dabei mit seinem Zeigefinger auf einen Fahrplan und sah mich mitleidig an. Benommen torkelte ich in den Bus und zeigte die Fahrkarte vor. »Ist alles in Ordnung mit dir, Mädchen?« Er musterte mich eingehend.
»Natürlich, danke«, brachte ich atemlos hervor und ging zu einem der freien Plätze. Ich war tatsächlich ziemlich nass geworden und unterdrückte das Bedürfnis, mein Haar wie ein Pudel zu schütteln. Leicht bibberte ich vor mich hin, wobei mir nicht klar war, ob es Kälte war, die mich zittern ließ, oder die Aufregung. Um meine Einkäufe und meine Tasche ordentlich auf dem Boden zu arrangieren, beugte ich mich vor, als der Bus ein ziemlich starkes Bremsmanöver hinlegte. Der Busfahrer stieß einen Fluch aus und ich rumste unsanft mit der Stirn an die vordere Sitzreihe. Ärgerlich rieb ich mir den Kopf und ließ meinen Blick schweifen, bis er an dem großen Fahrplan hinter dem Busfahrer hängenblieb. Ich war immer noch völlig perplex und versuchte verzweifelt zu rekonstruieren, was ich eben gesehen hatte. Der Plan war hinter einer Scheibe aus Plexiglas, in der ich mein Spiegelbild sehen konnte. Meine weit aufgerissenen goldenen Augen blickten mir verstört entgegen, aber auch die interessierten Augen von jemand anderem. Er saß etwa drei Reihen hinter mir. Mein Atem ging rascher, neues Adrenalin wurde durch meinen Körper gejagt, als mein Nacken zu kribbeln begann. Wurde ich zum Teufel noch eins jetzt gaga? Oder was war das für ein Idiot, der mich verfolgte!?
Gefangen starrte ich weiter in die Spiegelung. Seine Mundwinkel zuckten leicht zu einem ironischen Lächeln. Er sah aus, als wüsste er, dass er mich beunruhigte und es schien ihn zu amüsieren. Zaghaft kam Wut mit ins Spiel und ich drehte mich mit einem Ruck um. Und da war … niemand!
Außer einer alten Dame, die mich freundlich anlächelte und andere Personen, die mich nicht zur Kenntnis nahmen. Ich lächelte gequält zurück und setzte mich wieder gerade auf meinen Platz. Mein Spiegelbild starrte mir entgegen. Außer dem Hut der alten Dame und einigen anderen Personen war nichts mehr in der Reflektion der Scheibe zu erkennen, was ungewöhnlich gewesen wäre. Ich hatte mich getäuscht. Also, Hanna, ganz ruhig weiteratmen , dachte ich mir aufmunternd. Bloß nicht hyperventilieren!
An seinem Verstand zu zweifeln, löst ziemlich starke Gefühlsregungen aus. Zum Ersten Angst, diese Gefühlregung kannte ich schon recht gut. Danach Wut, mit der kannte ich mich auch ganz gut aus. Henry sagte, ich war ein recht wütendes Kind. Auch heute noch konnte ich fluchen wie ein Kesselflicker. Zum Dritten Hilflosigkeit. Dieses Gefühl war mir zwar weithin bekannt, aber ich konnte mich an kaum eine Situation erinnern, an der es so intensiv wie eine sich brechende Welle über mir ergoss und mich zu ertränken drohte. Hatte ich mich getäuscht? War es nur Einbildung gewesen? Er konnte doch unmöglich existieren.
Ich versuchte, mich tiefer in die Federn meines Bettes fallenzulassen und betrachtete meine Zimmerdecke, an die ich im jüngeren Alter hunderte Leuchtsterne geklebt hatte. Henry war noch immer nicht zurück, aber es war auch erst früher Abend. Ich erwog die Möglichkeit, ihm von meinen Träumen und der eventuellen Begegnung mit dem Jungen zu erzählen, verwarf sie aber fast zeitgleich mit einem mechanischen Kopfschütteln und schloss müde die Augen. November sprang schnurrend zu mir aufs Bett und machte sich über die restlichen Krümel der Tiefkühlpizza her, deren Teller ich inmitten von Gummibärchentüten noch auf dem Bett stehen hatte. Regen prasselte laut und beständig an die Fensterscheibe und ich versuchte, mich von dem gleichmäßigen Klopfen der Tropfen auf das Glas einlullen zu lassen. Neben meinen Kopf lag noch mein aufgeschlagenes Exemplar von Wuthering Heights , dessen Buchecke mir jetzt unangenehm in die Wange drückte, sodass ich es murrend von mir schob. Ich hatte es schon mindestens dreimal gelesen. Neben Jane Eyre und Stolz und Vorurteil war es mein Lieblingsbuch. Nicht umsonst waren diese literarischen Klassiker schon unzählige Male verfilmt worden. Also war mein Aufsatz in Nullkommanix fertig gewesen und ich trieb in der Unsicherheit über meinen verqueren Geisteszustand umher. Jetzt lösten sich meine Gedanken wie beim Ringelreihen ab mit meinen ungesunden Selbstzweifeln, Cathy und Heathcliff aus Wuthering Heights und der Möglichkeit, dass der Typ vielleicht
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