Cherubim
der Junge heulte los. Seine Augen waren weit aufgerissen vor Angst und Traurigkeit, und Rotz lief ihm in einem breiten gelben Strom aus der Nase.
Der Mann hatte den Sack offenbar mit Steinen beschwert, so dasser rasch sank. Mit einem Glucksen glitt er unter die Wasseroberfläche, schnell genug, um die Laute zu verschlucken, die die Katze in seinem Inneren von sich gab, als sie begriff, dass sie dem Tode geweiht war. Ein paar große Luftblasen durchbrachen die Wasseroberfläche. Im nächsten Moment lag der Fluss wieder ruhig und unversehrt da.
Hastig kehrte der Mann zu seinem Sohn zurück, nahm ihm die Fackel ab. »Komm!«, sagte er zu dem Jungen, griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich fort.
Keine zwei Augenblicke später verschwanden beide in der Finsternis. Das Schluchzen des Kindes hing noch lange in der eisigen Luft.
Heinrich starrte auf die Stelle, die den Sack verschlungen hatte. Die Luftblasen waren zerplatzt, die letzten Wellenkreise erreichten das Flussufer und liefen mit einem leisen Plätschern aus. Die Katze war fort, ebenso der Vater mit seinem Sohn.
Der Teufel. Und die Hölle.
Davon hatte der Mann gesprochen.
Heinrich schauderte und machte eilig das Zeichen, das die frommen Frauen ihm als kleinem Jungen beigebracht hatten: Mit den Fingerspitzen berührte er erst die Stirn, dann seine Brust und schließlich der Reihe nach erst die linke, dann die rechte Schulter.
Schließlich krabbelte er unter dem Brückenbogen hervor.
Um sich zu wärmen, stampfte er ein paarmal mit den Füßen auf. Sein gesamter Körper brannte von der eisig-feuchten Luft. Beiläufig langte er zu seiner Hüfte, wo er sonst die Tasche mit seinen Habseligkeiten trug. Er zuckte zusammen, als seine Hand ins Leere griff, doch gleich darauf fiel ihm wieder ein, dass er den Beutel in seinem Versteck gelassen hatte. Seine Schulter schmerzte heute zu sehr, um ihn zu tragen.
Ob Katharina etwas dagegen tun konnte?
Er lächelte, als er an sie dachte. Bestimmt würde sie ihm helfen können. Sie war immer so gut zu ihm!
Er betrat die unterste Stufe der Treppe genau in dem Moment, als sich der Mond in eine Wolke hüllte.
Und da presste er beide Hände auf die Ohren, warf den Kopf in den Nacken und stieß ein gequältes, langgezogenes Heulen aus.
»Die Engel!«, stöhnte er, obwohl niemand da war, der ihn hören konnte. »Die Engel!«
Seit Wochen hatte er sie nicht mehr gehört, doch nun begannen sie, wie im Sommer schon einmal, die Luft mit ihrem Kreischen zu erfüllen.
Am Fuß der Treppe sank er in sich zusammen.
Irgendwann hielt er das Getöse nicht mehr aus.
Er rappelte sich auf, zog seinen Mantel fester um sich und erklomm die Treppe, die ihn am Heilig-Geist-Spital vorbei in den südlichen Teil Nürnbergs brachte.
Eine Weile humpelte er ziellos durch die Stadt, mied die größeren Plätze und auch die breiteren Straßen. Seit dem Sommer, als die Engel zum ersten Mal gekreischt hatten, brannten hier an langen Stecken Laternen mit Pechlichtern. Heinrich mochte ihre zuckende, wie lebendig wirkende Helligkeit nicht, duckte sich vor ihr weg und wich in das Dunkel der engen Gassen zurück.
Einmal begegnete ihm ein Nachtwächter mit seinem eigenen Licht, leuchtete ihm mitten ins Gesicht und ließ ihn mit einer strengen Ermahnung, die Leute nicht zu belästigen, wieder ziehen. Eine Katze, die ein besseres Schicksal erwischt hatte als ihre Artgenossin im Sack, huschte vor ihm über den Weg und hielt inne, als sie seiner gewahr wurde. Sie machte einen Buckel und fauchte, dann aber zog sie es vor, in den Schatten zu verschwinden.
Eine kleine Gruppe bunt angemalter Huren kam Heinrich entgegen, taxierte ihn und befand ihn des Ansprechens für unwürdig. Mit unterdrücktem Gekicher gingen sie an ihm vorbei, wandten sich nach ihm um. Er starrte sie finster an, und eine von ihnen, ein zierliches, blasses Persönchen mit aufgedrehten Locken und einem gewagten Ausschnitt, streckte ihm die Zunge heraus.
Über den Dächern der Stadt rauschten die Engel mit ihren Flügeln.
Heinrich presste sich die Hände auf die Ohren und wankte weiter, vorbei an einem Grundstück, dessen Gebäude im Sommer in Flammen aufgegangen war.
Plötzlich näherten sich Schritte.
Heinrich hielt inne und lauschte.
Feste Schuhe. Eine vermummte Gestalt, die eine große Kapuze trug. Unmöglich zu sagen, ob es eine Frau war oder ein Mann.
Heinrich wich in den Schatten eines Hauses zurück, doch die Gestalt hatte ihn bereits entdeckt.
»Du da!«, rief sie. Die Stimme
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