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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Patientinnen gehabt.
    Seufzend dachte Katharina an all diese Frauen zurück. Vor keiner von ihnen hatte sie sich je so sehr geekelt wie vor ihrer eigenen Mutter. Vor deren säuerlichem und käsigem Geruch und ihrer tiefen, uneingestandenen Trauer.
    Die Lider gesenkt, reichte Mechthild Katharina den Nachttopf.
    So klein die Wohnung im Henkershaus auch war, sie besaß einen unschätzbaren Luxus: An einer ihrer Außenwände hatte sie ein winziges Gelass, das als Abtritt diente. Alles, was man hier durch ein Loch in einem hölzernen Balken warf, fiel direkt in die Pegnitz und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
    Katharina kippte den Inhalt des Nachttopfes durch dieses Loch und kehrte zu ihrer Mutter zurück. »Du solltest mehr trinken«, riet sie. »Dein Urin sah sehr dunkel aus.«
    Mechthild schürzte die Lippen. »Ich bin nicht Heinrich!«, wies sie Katharina zurecht.
    Heinrich war ein Bettler, den Katharina vor einigen Monaten kennengelernt hatte, ein Mann mit halb verwirrtem Verstand und dem freundlichen Gemüt eines kleinen Kindes, den Katharina regelrecht ins Herz geschlossen hatte. Er war einer der wenigen Menschen, um dessen Gesundheit sie sich noch zu kümmern wagte, seitdem der Stadtrat von Nürnberg es ihr verboten hatte, die reichen Bürgerinnen zu behandeln.
    »Nein«, murmelte Katharina. Ein bitteres »Leider!« lag ihr auf der Zunge, doch sie schluckte es hinunter. Sie war erfüllt von einem schlechten Gewissen, weil sie die Gegenwart eines Irren aus der Gosse besser zu ertragen vermochte als die ihrer eigenen Mutter.
    Mit einer ruppigen Bewegung schob sie den Nachttopf wieder unter das Bett. »Natürlich nicht«, setzte sie hinzu.
    »Ich kann nichts dafür, dass Bertram tot ist.« Mechthild stützte sich auf die Ellenbogen und richtete sich auf. Das Nachthemd verrutschte über ihrem Hals und entblößte faltige, gelbliche Haut.
    »Mutter!«, stöhnte Katharina gedehnt. Und im Stillen dachte sie: Verschone mich um Himmels willen mit diesem Namen!
    »Bertram und Matthias haben ...«
    Das war zu viel für Katharina. »Erwähne sie nicht immer in einem Atemzug!«, schrie sie. Die Felsen in ihrer Kehle zersplitterten und zerrissen sie von innen heraus.
    Mit vor Schrecken und Überraschung geweiteten Augen starrte Mechthild ihre Tochter an. »Was hast du nur?« Sie klang beleidigt und verletzt.
    Es war Katharina egal. »Matthias war mein Bruder!«, schnappte sie, fast atemlos vor Zorn und Trauer. »Und er starb durch die Hand eines irren Mörders. Bertram Augspurger hingegen ...« – sie betonte den Namen, als sei er etwas überaus Ekliges – »... er war der Henker von Nürnberg! Erwähne die beiden nie – niemals wieder in einem Atemzug, hast du mich gehört?«
    »Du hast recht«, gab Mechthild kühl zurück. »Matthias war mein Sohn. Aber Bertram war mein Mann. Und das zählt auch etwas! Wenn ich dir irgendetwas beigebracht habe, dann hoffentlich das!«
    Katharina schnaubte nur.
    Mechthilds Blick wurde eisig. »Manchmal denke ich, dein Vaterhatte doch recht«, sagte sie, und nun klang sie beleidigt. Dann rutschte sie tiefer in ihre Kissen und schloss die Augen. Ein untrügliches Zeichen für Katharina, dass sie das Gespräch als beendet betrachtete.
    Katharina bebte vor Zorn, doch gleichzeitig war ihr auch schlecht vor lauter Elend. In ihrem Unterleib machte sich ein schwaches Ziehen bemerkbar, das sie seit den Ereignissen – seit dem Großen Wahnsinn, korrigierte sie sich selbst – immer wieder einmal spürte.
    »Mein Vater«, presste sie mühsam hervor, »hat geglaubt, dass ich besessen bin.« Sie sprach durch gebleckte Zähne und kam sich vor wie ein tollwütiger Hund. »Er war ein Idiot!«
    »Es gibt vieles, was du nicht weißt.« Demonstrativ drehte sich Mechthild auf die Seite.
    Mit einem Ruck wandte Katharina sich um. Sie hatte keine Ahnung, was Mechthild mit dem letzten Satz gemeint hatte, und es war ihr auch egal.
    Sie marschierte aus der Kammer.
    »Wo willst du hin?«, rief Mechthild ihr nach.
    »Ich gehe nach Heinrich sehen!«, gab sie giftig zurück, dann warf sie die Tür hinter sich ins Schloss. Sie stürmte die schmale Stiege hinunter, packte ihren Mantel und ihre weiße Haube, legte beides an und riss die Haustür auf.
    Die Männer beim Fleischhaus starrten ihr verblüfft hinterher, als sie mit wehenden Röcken und finsterem Gesicht an ihnen vorbeirannte.
    Der Schnee, der in den letzten Tagen gefallen war, bedeckte den Boden mit einer dichten weißen Schicht und glitzerte im kalten

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