Cherubim
überquerte den Großen Markt, der um diese Zeit menschenleer war. Die unzähligen Bretterbuden, an denen die Marktleute ihre Waren verkauften, lagen still und verlassen unter dem zerrissenen Mondlicht.
Sie ging das kurze Stück bis zur Breiten Brücke, überquerte sie und lief dann eine Weile in der Lorenzer Stadt hin und her, doch an keinem seiner üblichen Standpunkte fand sie Heinrich
Und dann plötzlich stand sie vor dem Haus.
Ruckartig tauchte sie aus ihrer Versenkung auf. Sie hatte nicht vorgehabt hierherzukommen, und doch hatten ihre Füße sie hergetragen, während ihr Geist in Gedanken versunken gewesen war.
Mit klopfendem Herzen hob sie den Blick. An der Fassade des Hauses brannten keine Fackeln, dafür aber an dem Nachbargebäude, so dass Katharina einige Details erkennen konnte. Die Tür mit dem wohlvertrauen Klopfer. Das Geländer neben den Stufen des Haussteins.
Erschrocken über sich selbst, legte sie den Kopf in den Nacken und blickte an der mehrstöckigen Fassade nach oben. Die grünenund weißen Fensterscheiben wirkten in der herrschenden Dunkelheit blind, und Katharina fragte sich, ob sie es vielleicht tatsächlich waren. Immerhin gab es seit Monaten niemanden mehr, der sie putzte.
»Schöne Hütte, wa?«
Von links näherte sich eine Gestalt, die sich zum Schutz vor der Kälte in mehrere Lagen Stoff gehüllt hatte. Eine Hand schälte sich aus den unzähligen Schichten und wies an dem Haus in die Höhe. »Steht schon ’ne ganze Weile leer, aber früher, da wohnte da ’ne Hexe! Sagen die Leute jedenfalls.«
Eine Hexe!
Das eine Wort brachte Erinnerungen zurück, denen Katharina sich lieber nicht stellen wollte. Energisch schob sie sie von sich.
Sie musterte die Gestalt, konnte aber nicht ausmachen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Alles, was sie unter dem mehrfach um den Kopf geschlungenen Schal erkennen konnte, waren zwei flinke Augen, die von mächtigen Krähenfüßen umgeben waren. Die Stimme jedoch klang hoch und krächzend, und so vermutete Katharina, dass es sich bei ihrem Gegenüber um eine alte Frau handelte.
»Ich glaub ja nicht an so’n Zeugs, Hexen und so«, behauptete die Alte. »Ist ja schließlich auch unchristlich, oder etwa nich? Die arme Frau, also irgendwie tut sie mir leid.«
Katharina nickte knapp, zum Zeichen, dass sie von weiteren Details nichts wissen wollte. Sie versuchte, sich an der Frau vorbeizudrängen, doch die packte sie beim Arm.
»Der Besitzer«, plauderte sie fröhlich vor sich hin, »ist verschwunden. Schon vor fast einem Jahr. Es heißt, er sei in der Fremde gestorben, und seine Witwe musste das Gemäuer vor ein paar Wochen verkaufen. Hab mich ’ne Zeitlang gefragt, wo sie jetzt wohl wohnt.«
Im Henkershaus, dachte Katharina. Auch wenn du das wahrscheinlich nicht glauben wirst. Sie schwieg jedoch. Mit Nachdruck befreite sie ihren Arm aus dem Griff der Alten.
Die zuckte die Achseln. »Im Armenhaus, wahrscheinlich!«, beantwortete sie ihre eigene Frage. »Ich habe gehört, dass der Erlös des Hauses gerade die Schulden aufgewogen hat, die sie hatte. Besitzt wahrscheinlich nur noch die Kleider, die sie am Leib trägt.«
Nein, dachte Katharina. Einen schwarzen Samtrock noch dazu.
»Jedenfalls war sie die, die der Stadtrat im August hat tauchen lassen, um nachzuprüfen, ob sie eine Hexe ist.«
Katharina war kalt. »Ich muss weiter«, murmelte sie und drängte sich an der Frau vorbei. Es war ihr egal, dass sie sie dabei anrempelte. Sie wollte nur noch hier weg.
»Treibt Euch nicht auf der Straße herum!«, rief die Alte ihr nach. »Ihr holt Euch bei dieser Kälte sonst noch den Tod!«
Katharina bog um eine Ecke und beeilte sich, so viel Raum wie möglich zwischen sich und das Haus zu bringen. Als ihr das gelungen war, blieb sie stehen. Sie musste sich an einer Wand abstützen, weil die Erinnerungen sie jetzt mit Macht überfielen.
Sie dachte daran, wie ihr Bruder Matthias von dem Engelmörder umgebracht worden war, wie sie in den Sog dieser furchtbaren Mordserie geraten und sogar selbst im Lochgefängnis gelandet war. Sie dachte an die Wasserprobe, die sie gefordert hatte, um zu beweisen, dass sie keine Hexe war. Diese Wasserprobe, die beinahe so furchtbar schiefgegangen wäre ...
Und sie dachte an den Mann, der ihr damals das Leben gerettet hatte.
Richard Sterner.
Kurz verspürte sie einen scharfen Schmerz in ihrem Herzen, und er war so unerträglich, dass sie den Gedanken an Richard sofort weit von sich schob.
Um nicht mehr an ihn denken
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