Cherubim
sie zu fassen, aber es gelang ihr nicht. Plötzlich verkrampfte sich ihre Kehle, und das Schlucken fiel ihr schwer. Rasch schob sie die linke Hand in die Tasche, die in ihren Rock eingenäht war. Das Futter darin hatte an der Unterseite einen Riss, und durch den tastete Maria nach Mimi, die sie stets unter ihr Strumpfband geklemmt bei sich trug. Für einen sehr kurzen Moment fürchtete sie, die Puppe verloren zu haben, doch dann berührten ihre Finger den weichen Stoff des kleinen Kopfes.
Sie schloss die Faust um Mimis Körper und fühlte sofort den Trost, der von ihr ausging.
Sie wusste nicht, warum sie das tat, aber sie wusste, dass Mimi sie begleitete, seit sie ein Kind gewesen war. Den kleinen Stoffkörper zu berühren schien zu helfen, auch wenn Maria sich nicht ganz im Klaren war, wogegen eigentlich. Auf einmal atmete sie jedoch wieder freier.
Dagmar hob den Kopf. »Warum nicht?«, fragte sie, und sie klang trotzig jetzt. »Hat nicht der Papst selbst den Nonnen von St. Katharina befohlen, ein Haus für gefallene Frauen zu bauen? Dorthin könnte ich gehen.«
In diesem Moment erinnerte Dagmar Maria an das kleine Mädchen, das sie vor Jahren gewesen war. Schon damals hatte sie sich nur schwer mit Dingen abfinden können, die ihr nicht in den Kram passten. Sie zog dann die Mundwinkel nach unten und das Kinn zurück, so dass sie auf einen Schlag um Jahre älter aussah. Genau diese Miene setzte sie auch jetzt auf. Maria unterdrückte ein Seufzen. So eindringlich, wie sie es vermochte, blickte sie Dagmar in die Augen.
»Ein Kloster, Dagmar! Überleg doch mal, wie froh wir waren, als wir aus den Fängen der frommen Frauen entkommen konnten. Und jetzt willst du freiwillig in ein Kloster gehen?«
Doch etwas in ihr sagte ihr, dass das Unbehagen, das sie noch eben verspürt hatte, nicht mit den frommen Frauen zusammenhing. Sie war sich plötzlich ganz sicher, dass seine Ursache weit in der Vergangenheit lag. Sehr weit. Viel weiter, als das Findelhaus der frommen Frauen.
Die Vergangenheit ...
Maria schloss die Hand um Mimis Körper.
Auch die Puppe war ein Teil dieser Vergangenheit. Sie war bereits dagewesen, als die frommen Frauen Maria bei sich aufgenommen hatten. Aber woher sie stammte, wer den kleinen Puppenkörper genäht und mit Haaren aus Hanf und Farbe in das Abbild eines Menschen verwandelt hatte, wusste Maria nicht. Mimi war einfach schon immer da. Maria schob den Gedanken von sich. Jetzt war keine Zeit, sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Die Gegenwart war wichtiger.
»Ich weiß ja«, murmelte Dagmar. Ihre Augen waren jetzt weit aufgerissen, funkelten im Licht der Fackel. Was war das, dort in ihrem Augenwinkel? Ein dunkler Schleier, eine Rötung, wie sie sich nach einer zu langen Nacht im Weiß des Augapfels zeigte? Maria beugte sich vor, um es sich genauer anzusehen, doch da blinzelte Dagmar. Ihre Augen nahmen wieder ihren gewöhnlichen Ausdruck an, waren nicht mehr so weit aufgerissen, und der Eindruck war fort.
Maria drückte Mimi ein letztes Mal, vergewisserte sich, dass sie sicher unter dem Strumpfband klemmte, und zog dann die Hand aus der Rocktasche. Mit einem Schaudern schlang sie ihren wollenenSchal fester um die Schultern. Ein eisiger Wind fuhr in die Gasse vor der Krummen Diele und presste ihren Rock gegen ihre Beine. »Komm, wir gehen ein Stück, sonst frieren wir hier noch fest«, schlug sie vor.
Willig folgte Dagmar ihr, als sie sich anschickte, die Gasse zu verlassen. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher, und Maria überlegte, was sie nun sagen sollte. Dann meinte sie: »Dir ist doch hoffentlich klar, dass es in einem Kloster ungefähr hundertmal mehr Regeln gibt, als wir bei den frommen Frauen hatten?« Sie blickte auf Dagmars Leib, wo noch immer in einer schützenden Geste deren Hand lag. »Und eines ist sicher: Dort drinnen könntest du das Kind auf keinen Fall behalten!«
Dagmar zuckte zusammen. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen. Sie blieb stehen, und dann wurde sie von einem Schluchzen geschüttelt, das so heftig war, dass Maria sie erschrocken an sich zog.
»Um Himmels willen!«, rief sie aus. »Was ist denn bloß mit dir? Es ist einfach ein Kind, Dagmar! Ein dummer Fehler, aber einer, den Sibilla aus der Welt räumen kann. Sie ist gut darin, glaub mir, du musst keine Angst haben, dass dir etwas geschieht!« Und während sie auf die Freundin einredete und einredete, suchte sie im Geist fieberhaft nach einer besseren Lösung.
Doch ihr fiel
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