Cherubim
zu müssen, konzentrierte sie sich auf die Erinnerung daran, wie der Stadtrat ihr nach der Hexenprobe das Heilen, und damit die einzige Tätigkeit, die sie wirklich beherrschte, bei Strafe verboten hatte. Doch auch das nützte nichts.
Ohne dass sie es verhindern konnte, kehrte die Erinnerung an Egbert zurück. An ihren Ehemann, der auf einer Reise umgekommen war.
Sie krümmte sich. Ihre Knie zitterten, und sie brauchte all ihre Kraft, um sich wieder zur vollen Größe aufzurichten. Sie musste sich beschäftigen, dachte sie. Sie musste etwas tun, um diesen ganzen Erinnerungen nicht mehr so hilflos ausgeliefert zu sein.
Sie seufzte tief auf, dann ließ sie die Wand los und kehrte um.Diesmal schlug sie um ihr ehemaliges Haus einen Bogen, und schließlich erreichte sie eine Ruine in der Nähe der Frauentormauer, in die sich Heinrich manchmal bei großer Kälte zurückzog.
Sie blieb vor den verkohlten Balken stehen.
»Heinrich?«, rief sie.
Doch sie erhielt keine Antwort.
Dafür ertönten Schritte ganz in der Nähe.
In raschem, abgehacktem Rhythmus hämmerten sie auf das eisige Pflaster, und Katharina wich in die Schatten der ausgebrannten Ruine zurück.
Eine dunkel gekleidete Gestalt bog um eine Hausecke. Mit gesenktem Kopf und tief ins Gesicht gezogener Kapuze eilte sie an Katharina vorbei, ohne sie zu bemerken. Erst als ihre raschen Schritte in der Ferne verklungen waren, wagte Katharina sich wieder aus ihrem Versteck hervor. Kurz überlegte sie, sich durch das Gewirr aus Schutt und schwarzem Holz hindurchzuzwängen, um in Heinrichs Versteck nachzusehen, ob er wirklich nicht da war. Doch dann überlegte sie es sich anders.
Eine vage, unerklärliche Angst hatte plötzlich nach ihrem Herzen gegriffen und es zusammengepresst. Außerdem begann es jetzt in dicken, nassen Flocken zu schneien.
Sie murmelte erst eine rasche Entschuldigung an Heinrich, dann ein kurzes Gebet.
Und dann wandte sie sich ab und machte, dass sie nach Hause kam.
2. Kapitel
Den ganzen Tag über und bis weit in die Nacht hinein hatten die Stundenglocken Nürnbergs geschwiegen, und die ungewohnte Stille hatte die Bürger in Verwirrung gestürzt. Die Menschen waren zu spät zu ihren Verabredungen gekommen oder hatten vergessen, ihre Besorgungen zu machen, Warenlieferungen von einem Ende der Stadt zum anderen waren nicht pünktlich angekommen, und die Messen hatten verspätet begonnen.
Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als die Tür des Gasthauses Zur krummen Diele mit einem Ruck geöffnet wurde und zwei Frauen auf die Gasse hinaustraten. Eine Fackel, die der Wirt neben dem Eingang aufgesteckt hatte, warf flackernde Lichtreflexe auf die unbedeckten Haare der beiden. Eine der Frauen schwenkte ihre wirren roten Locken nach hinten und lachte lauthals, obwohl ihr das Blut aus der Nase schoss. Mit der rechten Hand versuchte sie es aufzufangen, doch in stetigem Strom rann es durch ihre Finger und tropfte auf den eisigen Boden.
Die andere Frau ließ sich mit blassem Gesicht gegen eine Mauer sinken, hob beide Hände und presste sie gegen ihre sommersprossenübersäten Wangen. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einer ehemals kunstvollen Frisur hochgesteckt, aus der sich einzelne Strähnen ringelten und ihr wie Korkenzieher in die Augen hingen.
»Dämliches Weibsstück!«, brüllte aus der verräucherten Wirtsstube ein Mann hinter den beiden Frauen her. »Für den Schaden wirst du mir bezahlen!«
Die Rothaarige – ihr Name war Maria – beugte sich vor und schrie zurück ins Innere des Wirtshauses: »Halt dein dreckiges Maul, Alter! Du hast nur bekommen, was du verdient hast!« Sie lachte und drückte dabei den Daumenballen auf ihr rechtes Nasenloch.
Der Mann schleuderte einen deftigen Fluch nach ihr.
Im Stillen belegte sie ihn mit jedem Schimpfwort, das sie im Laufe ihrer Jahre auf den Straßen der Stadt gelernt hatte. Als sie damit fertig war, warf sie die Wirtshaustür ins Schloss, dann wandte sie sich zu Dagmar, der Blonden, um. »Mach dir keine Sorgen, Kleines! Der ist wie ein Köter: Er bellt viel, aber er beißt nur sehr selten.«
»Du blutest so doll!«, flüsterte Dagmar.
Maria winkte ab. Prüfend ließ sie ihre Nase los. Der Blutfluss war bereits geringer geworden.«Nicht so schlimm! Er hat mir in dem Gerangel nur eins auf die Nuss gegeben. Hört schon auf!« Sie schniefte. Ein letzter roter Tropfen löste sich von ihrer Oberlippe, fiel zu Boden. Der metallische Geruch, der ihr bis hinten in die Kehle stieg, verursachte
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