Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
sie den verzweifelten Vanetti an. „Und sag‘ nicht, dass du es nicht kannst!“
Er konnte es, weil Radfahren eines der Dinge war, die ein Mann können musste, wie sein Vater fand. Chiara setzte sich auf den Gepäckträger und flehte den A-Grav stumm an, wieder zu tun, was sie wollte. Die Straße führte bergab, sie beschleunigten rasch. Wenig Luft in den Reifen, Bremsen, die kaum griffen und Dr. Ernst Vanetti am Steuer. Es hätte kaum schlimmer kommen können. Die Äste der Pinien wölbten sich raumgreifend über das schmale Asphaltband und verschluckten den größten Teil des schwachen Morgenlichts. Die erste scharfe Kurve wäre zur Katastrophe geraten, wenn sie sich nicht in zwei, drei Abschnitte aufgeteilt hätte. In der Berechnung von Bahnen konnte Vanetti niemand etwas vormachen. Es war ihm ein Gräuel, dabei auch den linken Fahrstreifen mit einzubeziehen, aber das ließ sich nicht ändern. Chiara wartete auf das Motorengeräusch, das gleich von hinten kommen musste. Es kam nicht. Aber sie hörte ein anderes Geräusch. Weite Sprünge, brechende Zweige. Lynx schoss aus dem Wald über die meterhohe Böschungsmauer, den Körper lang gestreckt, die Messer stoßbereit. So bedingungslos und wild flog er heran, dass sie fast zu spät reagierte. Augenblicke, bevor die Klingen sich in ihren Hals bohrten, riss sie den A-Grav in die Höhe. Und er tat wieder, was sie wollte. Lynx‘ Flugkurve erhöhte sich, die funkelnden Spitzen stießen ins Leere, er landete im Dickicht jenseits der Straße. Sie hörten kurz sein Stöhnen – oder war es ein Fauchen?
Vanetti trat in die Pedale wie verrückt. Dann kam die nächste Kurve. Es fehlten nur Zentimeter. Den Randstein kümmerte es nicht. Sie flogen vom Rad und – Chiara stand fest auf ihren Füßen, gleich neben der Straße. Der A-Grav hatte ihren Schwung gebremst und sie gehalten. Jetzt hielt sie ihn wieder. Vanetti kroch aus dem Unterholz. Das Meer und das Hafenbecken waren nur noch wenige Meter entfernt. Aus dem Wald drang ein Brüllen, das harmlosen Bürgern des 21. Jahrhunderts zu einer Gänsehaut in mehreren Schichten verhalf. Sie rannten los.
90___
Maria blickte auf einige Affären zurück, auf viel Spaß und genügend Geld im Hintergrund. Eine geborene Italienerin mit altösterreichischen Wurzeln. Pula, Triest, Steiermark, Wiener Neustadt, Prag, Tirol. Sie war bildhübsch. Lachende blaugrüne Augen unter glattem, schwarzem Haar, eine klassische, perfekte Nase, Lippen zum Küssen, glänzend weiße Zähne mit einem charmanten, schmalen Spalt vorne, den die Zungenspitzen ihrer Verehrer liebten ...
Sie wusste genau, an welchem Tag sie zum ersten Mal heiraten wollte. Ihre Urgroßmutter hatte an diesem Tag im März geheiratet, ebenso ihre Großmutter und ihre Mutter. Weibliche Linie, von Generation zu Generation. Die Urgroßmutter in Rovinj, die Großmutter in Sistiana, die Mutter in Venedig.
Maria hatte sich am Abend in Rovinj kirchlich trauen lassen, sie hatten im besten Restaurant der Stadt gegessen und bis nach Mitternacht gefeiert. Dann brach die kleine Gesellschaft in zwei Booten nach Sistiana auf. Dort hatten sie das Lokal direkt neben dem Hafen gemietet, das sonst um diese Jahreszeit geschlossen war. Sie aßen schüsselweise Muscheln aus Duino und tanzten zur Musik aus vier Generationen. Am frühen Morgen wollten sie weiter nach Venedig, um sich dort auch den staatlichen Segen einzuholen.
Ihre Boote, schneeweiß, lang und glatt, höllisch schnell, lagen achtlos festgemacht am Kai. Der Hafen von Sistiana in einer kühlen Mondnacht im März – da schneiden sich doch die letzten Krabben freiwillig selbst die Beinchen ab, ehe sie Böses tun.
91___
Chiara schubste Vanetti ins Boot, warf ihm den A-Grav zu, löste das Tau und startete den Motor. Sie war mit Motorbooten halbwegs vertraut, aber so eines hatte sie noch nie bedient. Sie sah Lynx aus dem Wald laufen, schneller als Menschen laufen können. Sie gab Gas und steuerte durch die Hafeneinfahrt aufs Meer. Es war ein gewaltiges Gefühl – bis das Loch in der Scheibe auftauchte und die Scheibe in sich zusammensackte. Sie blickte zurück und sah das zweite Boot. Lynx/Donahue lenkte es entspannt mit der Linken, mit der Rechten zielte er auf sie. Er hatte sich sogar die Zeit genommen, seine Pistole aus den klebrigen Scherben der Bar zu bergen. So sicher war er sich seiner – und ihrer.
Chiara steuerte blitzartig aus der Schussrichtung, sie begann Bögen zu fahren.
„Tu doch endlich was!“ schrie sie in
Weitere Kostenlose Bücher