Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Schatz, ein historisches Dokument! Die Erinnerungen eines Zeitgenossen, eines Reisegefährten des Franz von Assisi, keinen anderen konnte er meinen!
Mit flatternden Fingern und wild hämmerndem Herzen blätterte sie zur nächsten Seite. Und erstarrte. Die Schrift blieb so deutlich wie zuvor. Doch sie hatte ihren Sinn verloren. Sie las:
uac olhnz ub nzh bfcz nzj ndhag elxusbfbd fxj zhjkzh jdcb yzubzh zxkzhb szrdhzb. yzub mfkzh ofh rflzh. uy fxkzh mdb tzcb vfchzb cfkkz uac vlbszhz szjacoujkzh, muzh rhlnzh lbn rhlnzh jacozjkzhb.
Eine Verschlüsselung! In einem Wutausbruch zerbrach Chiara den Bleistift und schleuderte die Teile quer durchs Nest. Einer traf die lockere Scheibe und brachte sie zum Klingen.
25___
Chiara blickte auf den Buchstabensalat und murmelte leise Verwünschungen. Sie blätterte weiter, überflog den Text Seite um Seite. Sie entdeckte Skizzen, feine, exakte Zeichnungen, Pläne. Doch alles Geschriebene blieb unverständlich. Sie nippte am Wein, der saurer war als Balsamico, stand auf, schüttete ihn weg, kehrte an den Schreibtisch zurück, atmete tief durch und las nochmals voller Konzentration die erste Seite. Natürlich, in seinem letzten Klartextsatz wies Vanetti selbst darauf hin: Dem, der es lesen kann, wird es großen Nutzen bringen.
Ihr fiel das Katapult ein und Alexandro Parellos begründete Sorge, auf einem Scheiterhaufen zu enden. Guido Vanetti, der seine Zeit und seine Welt offenbar auch sehr gut kennen gelernt hatte, konnte nicht weniger besorgt gewesen sein. Er hatte sich der Kryptografie bedient, um sich zu schützen. Was, wie Chiara fand, das Problem eleganter löste, als Nichtschwimmer in einen kalten, reißenden Fluss zu stürzen. Kryptografie war ihr nicht unbekannt. Wer mit historischen Texten auf der einen Seite und mit dem Internet auf der anderen arbeitet, kommt immer wieder damit in Berührung. Nur fehlten ihr praktische Erfahrungen mit Ver- oder Entschlüsselung. Dafür gab es Spezialisten. Aber – und darin zeigte sie sich Antonio ähnlicher, als sie gerne zugegeben hätte – diesmal lag für sie auf der Hand, dass sie diesen Text nicht einfach einem x-beliebigen Experten überlassen würde. Sie schwenkte zu ihrem PC und machte sich auf die Suche. Nach zweistündiger Recherche hielt sie die Aufgabe für bewältigbar. Sofern Guido seiner Zeit nicht allzu weit voraus gewesen war. Sie zeichnete ein Raster für die Häufigkeitsverteilung und begann, Buchstaben zu zählen. Buchstabenzählen ist keine allzu spannende Tätigkeit. Chiaras Kopf sank langsam nach vorne auf das Pergament. Sie träumte.
26___
Der Text vor ihr verwandelte sich. Er wurde noch älter, sehr viel älter. Sie las:
„Bei solchen Grundsätzen also und solange noch die göttliche Natur vorhielt, befand sich bei ihnen alles früher Geschilderte im Wachstum; als aber der von dem Gotte herrührende Bestandteil ihres Wesens, häufig mit häufigen sterblichen Gebrechen versetzt, verkümmerte und das menschliche Gepräge die Oberhand gewann: da vermochten sie bereits nicht mehr ihr Glück zu ertragen, sondern entarteten und erschienen, indem sie des schönsten unter allem Wertvollen sich entäußerten, dem, der dies zu durchschauen vermochte, in schmachvoller Gestalt.“
Ein Zitat aus Platons Dialogen. Aus jenen Dialogen, auf die sich die Atlantis-Sage vor allem anderen stützt.
Der Text verschwand, der Raum verwandelte sich in einen kleinen Saal mit hohen, milchigen Fenstern, die Wände aus poliertem Stein, die Decke aus schwarz glänzendem Holz, der Boden aus schimmerndem Elfenbein.
Chiara erkannte den Herrscher des Nordens, obwohl sie doch nie zuvor von ihm gehört oder ihn gar gesehen hatte. Er stand vor einem großen Kartentisch, umringt von seinen Generälen. Sie trugen die traditionellen Rüstungen mit Schulterpanzern aus dickem, schwarzem Leder, der Führer aber aus weißem. Auf dem Tisch lagen Dutzende Meldungen. Niederlagen, Rückzüge, Hilferufe. Mit einer Handbewegung wischte er sie weg.
„Eure Pläne taugen nichts. Wir setzen ihn ein. Ohne weitere Verzögerung. In dieser Lage darf es keine Rücksicht geben.“
Er betrachtete die Mienen seiner Untergebenen. Sie wirkten dunkel, starr und so ausdruckslos, wie menschliche Züge nur sein können. Er wusste dennoch, was sie dachten. Langsam zog er eine Pistole aus dem Halfter. Im Raum herrschte absolute Stille. Unerträgliche Stille. Sekundenlang, minutenlang. Ein einziger tiefer Atemzug, fast ein Stöhnen, durchbrach sie. Es klang wie
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