Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
nicht? Sie grinste, als sie an die Empörung der Dame von vorhin dachte. Diese Art von Verkommenheit schadete Italien bestimmt am wenigsten. Allerdings durchschaute sie auch nicht den Sinn der Performance. Eine künstlerische Installation? Aufmerksamkeit um jeden Preis? Das mochte funktionieren, denn morgen hatte der Ladenbesitzer bestimmt etliche Anzeigen am Hals und die Polizei im Haus. Chiara zuckte die Achseln und ging weiter. Ihr fiel nicht auf, dass in einigem Abstand ein von Kopf bis Fuß nagelneu eingekleideter Mann hinter ihr her schlenderte. Ein Mann im hellen Mantel, der nicht das Schaufenster, sondern die Reaktion der Menschen betrachtete und sich darüber königlich amüsierte.
21___
Zwei Tage später sollte das ‚Rätsel der Pornopuppen‘ für einige Aufregung in den Zeitungen sorgen. Die Eigentümerin des Ladens schwor bei allen Heiligen, dass sie nichts damit zu tun habe. Es handelte sich um eine 62-jährige angesehene Geschäftsfrau, die der Vorfall an den Rand eines Infarkts brachte. Man glaubte ihr. Noch rätselhafter als die Frage nach dem Täter stellte sich aber die nach der Herkunft der Puppen. Der Dekorateur versicherte unter Tränen – die Sache ging ihm sehr nahe – dass es sich um seine ganz gewöhnlichen, harmlosen Puppen handelte, mit denen er seit Jahr und Tag das Schaufenster gestaltete. Er erkannte sie an unverwechselbaren und einmaligen kleinen Beschädigungen, Kratzern und Verfärbungen. Niemand hätte die so perfekt fälschen können. Auch habe er nie sexuelle oder gar pornografische Neigungen bei ihnen festgestellt.
Experten hielten dagegen, dass es unmöglich sei, Kunststoffpuppen ohne gröbste Gewalteinwirkung in dieser Weise umzuformen – und von Gewalteinwirkung fand sich keine Spur. Außerdem: Weshalb und wie hätten ihnen plötzlich Geschlechtsorgane wachsen sollen?
Der Austausch der Puppen schien zudem mit einem Diebstahl zusammen zu hängen. Er wurde in dem Trubel nur entdeckt, weil ein Kunde seinen geänderten Anzug abholen wollte. Neben dem Anzug fehlte auch ein Mantel. Nichts wies allerdings auf einen Einbruch hin. Um das Ganze noch undurchschaubarer zu machen, fanden sich in einer der Umkleidekabinen folgende Gegenstände: Ein altmodischer Überrock, Kniebundhosen, eine Perücke aus längst vergangenen Zeiten und ein rostiger Degen. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen. Chiara, die es vielleicht gekonnt hätte, fiel nicht auf, dass der Überrock mit zahlreichen Knöpfen versehen war, die jenem, der auf ihrem Schreibtisch lag, bis ins kleinste Detail glichen. Sie verfolgte die Affäre nur ganz am Rande. Antonio und das Katapult gaben ihr schon mehr als genug zu denken. Die Puppen landeten schließlich in einem Lagerraum der Polizei, der Dekorateur erhielt neue, mit denen er sich aber – wie er betrübt erklärte – bei weitem nicht so gut verstand wie mit den alten.
22___
Am Arno wandte sich Chiara nach links in Richtung der Uffizien. Sie hatte nur mehr wenige Meter zu gehen. Die Praxis ihres Vaters wurde auf einer schlichten Tafel aus weißem Marmor mit schwarzen Lettern angezeigt. Dr. Stefano Fontana, Med . univers . Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie ihn dazu gebracht, das viel zu große Haus zu verkaufen und sich eine Wohnung und Ordinationsräume direkt in der Stadt zu suchen. Sie hatte auch auf der Tafel bestanden, als er stattdessen ein von Hand beschriebenes Stück Karton in das Sichtfenster der Gegensprechanlage schieben wollte.
Damals war sie vierzehn gewesen. Mit siebzehn fand sie ihr Nest. Fast zur gleichen Zeit wurde eine Wohnung zwei Etagen über der Praxis frei und wieder setzte sie es durch, dass er dort einzog.
Auf ihr Klingeln ließ er sie ohne ein Wort ein, was darauf hindeutete, dass er noch am Herd stand. Sie fand die Wohnungstür bereits geöffnet. Der Duft von Majoran stieg ihr in die Nase.
„Hallo Papa!“ rief sie. „Bin ich zu früh?“
„Genau recht“, rief er zurück. „Ich bin nur nicht zum Aufdecken gekommen. Könntest du ...“
Sie lief in die Küche und fand ihn in höchster Konzentration. In der großen Pfanne schmorten vier Scheiben Kalbsleber, in kleinen Töpfen verschiedene Gemüse. Er hielt ihr die Wange hin und sagte: „Schön, dass du da bist, Liebling. Entschuldige. Nur noch eine Minute.“
Sie hauchte einen Kuss auf seine Wange.
„Ich decke auf, Papa.“
Die Freunde des Dottore, unter denen sich einige Berufsköche befanden, vertraten die Ansicht, dass ihm zum wirklich perfekten Koch nur ein
Weitere Kostenlose Bücher