Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
nichts. Bestimmt kam den Lichtern eine Bedeutung zu, die er nur nicht verstand. Er verfiel auf den Gedanken, dass es vielleicht einer bestimmten Kombination bedurfte, um einen Schritt weiter zu gelangen. Wie bei einem Zahlenschloss. Er versuchte zunächst, alle Punkte zu finden, die bei Berührung eine Reaktion hervor riefen. Er probierte, einzelne Flächen mit einem Textmarker anzuzeichnen. Doch der Marker hinterließ keine Spur auf der glatten Oberfläche. Auch andere Schreibinstrumente versagten. In einem Anfall plötzlichen Ärgers, wollte er dem Ding einen Kratzer zufügen. Zuerst mit seinem Taschenmesser, dann mit einem Nagel, schließlich mit einer Metallfeile, die er aus unerfindlichen Gründen im Badezimmer aufbewahrte. Vergeblich. Er probierte es mit schmalen Klebestreifen. Sie hafteten nicht. Antonios Respekt wuchs, zugleich aber auch sein Ehrgeiz. Er machte sich an die mühsame Aufgabe, Druckkombinationen und ihre Reihenfolge systematisch abzuarbeiten. Dabei konnte er nur hoffen, dass sich der gesuchte Code als einfach erwies. Es gibt mehr als tausend Möglichkeiten, die verschiedenen Griffe der Finger der linken Hand mit denen der rechten zu kombinieren. Wenn dann noch zwei richtige Griffe hintereinander erforderlich sein sollten, kam man schon auf eine Million. Antonio schätzte um eine Zehnerpotenz zu niedrig, aber auch die von ihm errechneten hunderttausend Versuche hätten ihm den Mut rauben können. Er kochte Kaffee und fing an.
Gegen Mitternacht gab er beinahe auf. Vor allem, da er nicht mehr wusste, ob er seine Kombinationsreihenfolge wirklich genau eingehalten hatte. In immer kürzeren Abständen musste er außerdem Pausen einlegen, um Muskeln und Gelenke zu lockern. Schließlich nickte er kurz ein. Beim Versuch sich umzudrehen, rutschte er vom Sessel und wachte auf. Wieder probierte er es mit den Griffkombinationen. Um zwei Uhr nachts rief er bei Chiara an.
„Was willst du?“ murmelte sie. „Ich schlafe.“
„Ich schaffe es nicht“, sagte er. „Was steht im zweiten Manuskript? Ich brauche einen Hinweis.“
„Ich kann es nicht lesen. Es ist verschlüsselt. Morgen... Geh jetzt ins Bett.“
Sie legte auf. Antonio spielte noch ein bisschen herum und überlegte ernsthaft, Chiaras Rat zu befolgen. Irgendwas hinderte ihn daran. Handgelenke, Arme und Rücken waren völlig verspannt. Er hielt das Katapult mit ausgestreckten Armen vor sich, versuchte seine Muskeln zu lockern, drehte die Handgelenke nach rechts und links und hielt die Griffe dabei fest umklammert, um den Widerstand zu erhöhen. Und plötzlich geschah etwas. Die Griffe gaben seinem Druck nach und glitten auseinander. Zwischen ihnen, in ihrem oberen Bereich, erschien ein helles Display. Er ließ das Gerät auf den Tisch sinken und starrte es an. Die Form erschien ihm nach wie vor perfekt, nur anders. Die Veränderung, das Auseinandergleiten der Griffe, das Auftauchen des Displays war nicht mechanisch erfolgt. Jedenfalls nicht so, wie wir mechanisch verstehen. Nicht die kleinste Unebenheit, kein Schlitz, keine Nut, keine Führung oder irgendetwas Derartiges konnte er in der makellosen Oberfläche erkennen. Dennoch hatte sich die Form erweitert. So, als wäre sie organisch gewachsen. Antonio zwickte sich kräftig ins Ohrläppchen. Tränen traten in seine Augen – an der neuen Form des Katapults änderte sich nichts. Zaghaft fasste er es wieder an. Augenblicklich erschien auf dem Display ein Abbild seiner Wohnung. Vom Monitor einer gewöhnlichen Digitalkamera unterschied es sich durch die perfekte dreidimensionale Darstellung. Er meinte, ins Bild greifen und die kleinen Möbel mit den Fingerspitzen herausheben zu können. Wo er vorhin vergeblich versucht hatte, Markierungen anzubringen, schimmerten jetzt farblich klar abgegrenzte Tastfelder. Sehr vorsichtig begann er, Druck auszuüben. Das Display veränderte sich sofort. Mit den Mittelfingern konnte er den Bildausschnitt vergrößern oder verkleinern. Die Ringfinger schälten das Objekt heraus, das sich jeweils in der Mitte des Suchers befand, während alles rundum verblasste und scheinbar zurückwich. Auf diese Art fixierte er seinen Couchtisch. Eher zufällig bewegte er das Katapult ein wenig nach oben. Augenblicklich folgte ein lautes Krachen. Erschreckt blickte er auf und sah seinen Couchtisch an der Decke kleben. Er bewegte das Katapult zur Seite. Zeitgleich flog der Tisch gegen die Wand und zertrümmerte einen Bilderrahmen. Fassungslos ließ er das Ding sinken, der Tisch
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