Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
geheiratet, weil ich sie liebte. Das hat mich nicht blind gemacht. Jedenfalls nicht allzu sehr.“
Als sie etwas erwidern wollte, hob er die Hand.
„Du hast sehr viel von ihr, aber zum Glück fehlt dir ihr Hang zum großen Drama. Doch nur weil du ihr im Grunde so ähnlich bist, bin ich überzeugt, dass du bestimmt nicht überschnappst. Wenn du mehr von mir hättest, wäre ich nicht so sicher.“
Er sagte das in scherzhaftem Ton, doch sie zweifelte nicht daran, dass er ziemlich genau meinte, was er lächelnd aussprach. Sie zögerte.
„Wie erklärst du dir dann diese ... Visionen?“
„Gar nicht“, erwiderte er in seiner typischen Offenheit, die manche Patienten nicht ertrugen, für die ihn andere aber liebten. „Ich weiß nur, dass du dir keine Sorgen machen musst. Träume oder Visionen, wie du meinst, sind selten so hyperrealistisch, das stimmt. Aber du hast, im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, nie die geringsten Anzeichen einer psychischen Schwäche gezeigt. Du zeigst auch jetzt keine. Diese Möglichkeit kannst du ausschließen.“
Mehr blieb dazu nicht zu sagen. Hatte sie etwas Konkreteres erwartet? Jedenfalls hatte er sich noch nie so offen über Mama ausgelassen. Eine neue Seite.
Sie plauderten über dies und jenes, er erzählte von seiner bevorstehenden Reise zu dem Kongress in Madrid, sie tranken etwas und gegen zehn machten sie sich an den Abschied. Trotz oder gerade wegen Chiaras schlechtem Gewissen fiel er besonders herzlich aus.
Dr. Fontana ließ es sich niemals nehmen, für seine Tochter ein Taxi zu bestellen. Immer bei Alfred, einem Deutschen, der seit vielen Jahren in Florenz lebte und ein kleines Unternehmen aufgebaut hatte. Wenn der Dottore ein Taxi bei Alfred bestellte, konnte er sich hundertprozentig darauf verlassen, dass seine Tochter wohl behütet nach Hause kam. Den Fahrer bezahlte er im Voraus. Chiara hatte sich damit abgefunden, dass dies zu den Ritualen ihrer Beziehung zählte. Heute freute sie sich darüber. Sie fühlte sich hundsmüde.
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Die vielen Stufen zum Nest erschienen ihr anstrengender als sonst. Der Ausflug und die Anspannung des Tages forderten ihren Tribut. Sie trug noch immer die beiden Schriften mit sich. Absichtlich hatte sie es vermieden, die ältere auch nur anzulesen. Der Zustand des Pergaments und eine Jahreszahl gaben dafür den Ausschlag. Beides versetzte sie in höchste Erwartung, sie wollte den ersten Kontakt mit diesem Manuskript voll und ganz auskosten. Trotz ihrer Müdigkeit legte sie die Mappe sorgsam auf ihren Schreibtisch. Ehe sie mit dem Lesen begann, machte sie sich ein wenig frisch, zog einen warmen Pyjama an und schenkte den Rest aus einer Rotweinflasche in ein großes Glas. Dann saß sie vor der ersten Seite, einen Block und einen spitzen Bleistift vor sich, und entzifferte die ersten Zeilen einer exakten, wie gedruckt wirkenden Handschrift. Sie fühlte Schauer über ihren Rücken laufen, denn die Sprache war ihr bestens vertraut. Kein Geringerer als der große Dante Alighieri hatte sie in seiner „La Comedia“, die erst nach seinem Tod den Beinamen „Die Göttliche“ erhielt, in die Weltliteratur eingeführt. Die italienische Volkssprache des 13. und 14. Jahrhunderts, die Mutter des modernen Italienischen. Chiara hatte darüber promoviert. Sie las halblaut, um nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören.
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Sie las:
„Ich, Guido Vanetti, habe dies geschrieben. Nach Jahren der Sklaverei in Ägypten, in denen ich Vieles gelernt und Unglaubliches erlebt habe, nach meiner Rückkehr mit Franz, den sie heute den Heiligen nennen, nach meiner Heirat mit Caterina und der Übernahme der Geschäfte Ihres Vaters, des wohlgeborenen Signore Polasini, nach meinen Reisen in viele Länder und Städte der uns bekannten Welt. Denn ich weiß wohl, dass es jenseits davon eine noch größere Welt gibt, die uns unbekannt ist. Vielleicht sogar viele Welten.
Ich habe meine Aufzeichnungen begonnen, als der große Kaiser Friedrich in Castel Fiorentino starb, ich beende sie im Jahr 1276, nachdem mich das Begräbnis Gregor X. in Arezzo so deutlich an meine eigene Sterblichkeit erinnert hat.
Was ich geschrieben habe, ist wahr. Dem, der es lesen kann, wird es großen Nutzen bringen.“
In der gleichen klaren Schrift hatte der Vorfahr des ermordeten Emilio seinen Namen an das Ende der ersten Seite gesetzt.
Chiara atmete angestrengter als in den Tiefen des Kellers der Parellos. Ihre Hände zitterten. Was war ihr hier in die Hände gefallen! Ein
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