Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
dem Luftwaffenstützpunkt kamen, desto weniger behagte ihr Mikes Plan. Die Vorstellung, den A-Grav, ihren A-Grav (so schnell ging das also, seufzte sie innerlich zum zweiten Mal binnen weniger Stunden), italienischen Militärs und Politikern zu überlassen, erschien zweifellos töricht, sogar bedrohlich. Geradezu absurd, wenn man bedachte, was in den vergangenen Jahrzehnten alles über die symbiotischen Beziehungen zwischen öffentlicher Verwaltung, gewählten Mandataren und organisiertem Verbrechen zutage getreten war. Ganz abgesehen von der obszönen Art, mit der höchste Staatsorgane die Gesetzgebung für ihre privaten Zwecke missbrauchten und sich so vor Strafverfolgung schützten. Andererseits zweifelte sie keine Sekunde daran, dass die Amerikaner dieses Geschenk Gottes, als das sie den A-Grav betrachten mussten, rücksichts- und skrupellos für ihren eigenen Vorteil nützen würden. Zum Wohle der Menschheit natürlich. Wie alles, was sie sich seit ihrer letzten wirklich guten Tat, der Befreiung Europas vom Faschismus, geleistet hatten. So getränkt von Überheblichkeit, wie sie waren, würden sie auch noch selbst daran glauben.
Genau genommen wollte sie ihren Fund ebenso wenig den Amerikanern in den Rachen werfen wie der Führung ihres eigenen Landes. Mike hatte ihnen geholfen, ihnen vielleicht sogar das Leben gerettet. Aber deswegen der Nation, der er angehörte, so ein Geschenk zu machen, kam ihr von Minute zu Minute übertriebener vor. Wenn es auf dieser Erde überhaupt eine große Organisation gab, der sie einen halbwegs verantwortungsvollen Umgang mit dem A-Grav zutraute, dann der Europäischen Union. Und immerhin war diese Wunderwaffe – viel mehr als nur eine Waffe, korrigierte sie sich – in Europa aufgetaucht. In einem europäischen Kernland sogar.
Es würde allerdings nicht einfach sein, Mike davon zu überzeugen. Wie würde er reagieren? Als zimperlich hatte er sich bis jetzt nicht erwiesen.
Der A-Grav ruhte in seiner Tasche zu ihren Füßen. Sie fühlte wieder eine seltsame Verbundenheit mit ihm. Eine Verbundenheit, die ihr merkwürdig genug erschien. Oh ja, er war ganz bestimmt viel mehr als nur eine Waffe. Worin dieses Mehr bestand, blieb ihr indes noch schleierhaft. Trotz der Fremdheit, die mit ihren Empfindungen einherging, empfand sie keine Furcht davor.
Würde sie ihn einsetzen, um seine Auslieferung an die Amerikaner zu verhindern?
74___
Bei Gemona verließen sie die Autobahn. Mike parkte den Jeep auf dem fast leeren Parkplatz vor dem kleinen Einkaufszentrum. Beidseits des Tals ragten hier noch steile, felsgraue Bergwände empor, doch Chiara glaubte schon die Luft der weiten, frühlingsfeuchten Ebenen im Süden zu riechen, die wie eine Fortsetzung des Meeres langsam gegen den Südrand der Alpen strömte. Sie stiegen aus – Chiara die Tasche mit dem A-Grav umgehängt – sahen sich um und vertraten sich die Beine. Der Amerikaner und die Frauen rauchten, Vanetti sicherte misstrauisch in alle Richtungen, als erwarte er jeden Augenblick einen Überraschungsangriff aus dem Hinterhalt.
Dann gingen sie in den Kleidermarkt und kauften Wäsche, Hemden, Socken, Strümpfe, T-Shirts, Chiara und Elena ein Kleid, Vanetti Jeans ... Chiara schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie auffallen mussten. Vier Erwachsene, die gemeinsam mit einem Jeep ankamen und sich einkleideten, als ob sie keinerlei Gepäck mit sich führten ... Was mochten sich die wenigen, gelangweilten Verkäuferinnen denken, denen sich bei der geringen Frequenz des Ladens eigentlich jeder einzelne Kunde ins Gedächtnis einprägen sollte.
„Ich werde paranoid“, dachte sie. „Es ist auch kein Wunder.“
Sie wechselten in die Cafeteria, in der sich nur drei ältere Straßenarbeiter in schmutzigen Arbeitsanzügen aufhielten und Fernet tranken. Aber gleich darauf kamen zwei Familien mit Kindern herein, das Lokal belebte sich. Elena holte belegte Panini von der Selbstbedienungstheke, Vanetti trug ein Tablett mit weißen Cappuccino-Tassen. Während sie aßen und tranken, dabei kaum ein Wort wechselten, jeder zwei, drei Einkaufstaschen aus Plastik neben sich, kam fast eine Art Urlaubsstimmung auf. Einkaufen, Kaffee trinken, Brötchen essen, das Auto nur wenige Meter entfernt im Blickfeld, im Hintergrund die Betonkonstruktion der Autobahntrasse mit ihren geschwungenen Auf- und Abfahrten. Vorbeiziehende LKWs, Autos, Wohnwagengespanne, hin und wieder ein Motorrad. Eine Station für Reisende in einer kargen Umwelt aus Schotter, Stein,
Weitere Kostenlose Bücher