Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Beton, Asphalt und Glas. Schwer vorstellbar, dass sich jemals ein Fußgänger oder Radfahrer hierher verirrte. Elena, die kurzfristig in die Rolle der Glucke schlüpfte, stand auf und holte Krapfen. Vanetti ärgerte sich, dass sie mit Vanillecreme gefüllt waren statt mit Marillenmarmelade, wie es sich gehörte.
„Du bist nicht in Wien“, tadelte Elena gönnerisch. „In Italien haben wir einen besseren Geschmack.“
Mike blickte auf die Uhr und erhob sich. „Ich gehe noch ein paar Schritte. Sagen wir: Abfahrt in 15 Minuten.“
„Ich komme mit“, flötete Elena.
„Nein“, wehrte er ab. „Ich brauche ein bisschen Ruhe zum Denken.“
Er drehte sich um und verließ den Raum. Durch die großen Glasscheiben sahen sie ihn am Rand des Parkplatzes entlang schlendern und dann um eine Ecke des Gebäudes verschwinden.
„Immer wenn er denken sagt, meint er telefonieren“, zischte Elena, böse über die Abfuhr.
„Ja“, bestätigte Vanetti. „Das ist mir auch aufgefallen.“
„Er hat auch jede Menge Informationen besorgt“, gab Chiara zu bedenken. Dabei fragte sie sich, wie weit man einem Menschen trauen konnte, den man erst seit drei Tagen kannte. Auch wenn man in der kurzen Zeit gemeinsam einiges erlebt hatte. Der Anflug von Urlaubsstimmung und Vagabundentum verflog. In der Toilette der Cafeteria zogen sie ihre neuen Sachen an und machten sich ein wenig frisch. Mike wartete schon ungeduldig, als sie zum Jeep kamen. Sie fuhren jetzt westlich der A 23 Richtung Spilimbergo.
„Gibt es was Neues?“ fragte Chiara.
„Nichts“, murmelte Mike. „Das beunruhigt mich. Auch wenn wir ihnen zwischenzeitlich entwischt sind, kann ich nicht glauben, dass sie uns ganz verloren haben.“
„Warum nicht?“ meldete sich Vanetti. „Das sind doch Kriminelle. Die können nicht die ganze Welt überwachen wie dein Geheimdienst. Der manche Leute trotzdem jahrelang nicht findet ...“
„Oder nicht finden will“, fügte Elena in vager Streitlust hinzu, selbst nicht sicher, ob das Thema sich zur Auseinandersetzung eignete. Tatsächlich ignorierte Mike ihren Einwand.
„Wir bewegen uns sehr langsam auf einem sehr kleinen Teil der Welt. Unsere Verfolger sind gut organisiert und alles andere als mittellos. Vielleicht haben sie es nicht nötig, hinter uns herzufahren, weil sie genau wissen, wo wir sind.“
„Und wo wir hinwollen“, sagte Chiara, die ihre Zweifel an Mikes Plan aus einer anderen Perspektive bestätigt fand. Schweigend rollten sie in gemächlichem Landstraßentempo weiter.
Die GPS-Stimme des CX meldete: „Wir nähern uns Carpacco. Noch 10 Kilometer bis Spilimbergo.“
Unvermittelt bremste Mike ab und lenkte den Jeep in eine schmale Parkbucht neben der Straße. Er studierte die Landkarte auf dem Display des Geräts und markierte einige Punkte.
„Aviano ist zu gefährlich, nicht wahr?“ erkundigte sich Chiara. Offenbar verbannte sie die Genugtuung darüber nicht gründlich genug aus ihrer Stimme, denn Mike sah auf und musterte sie überrascht. Wie schon oft, hatte sie den seltsamen Eindruck, sein Gesicht zum ersten Mal zu sehen. Waren seine Augen nicht heller geworden und die Kinnpartie noch härter?
„Aviano ist nur 40 km entfernt und der sicherste Ort für uns im weiten Umkreis. Ich habe nur die Route ein bisschen verlängert. Ich schätze, es ist besser, wenn wir nicht den kürzesten Weg nehmen und größere Ortschaften überhaupt meiden.“
„Nur noch 40 Kilometer“, dachte Chiara. Was konnte sie tun? Wenn Mike Recht hatte mit seinen Befürchtungen – und das war durchaus möglich, dann mochten die Amerikaner mit ihrem menschheitsbeglückenden Willen zur Durchsetzung ureigenster Interessen das geringere Übel sein. Sie erinnerte sich an die Männer in Vanettis Wohnung, an ihren fanatischen Hass, an ihre Grausamkeit ... Da waren die Amis bestimmt das geringere Übel. Das GPS führte sie nun über enge Nebenstraßen ihrem Ziel entgegen. Hin und wieder begegneten sie einem Motorroller, einem kleinen Lieferwagen oder einem Traktor. Die weit verstreuten Häuser machten häufig einen ärmlichen Eindruck, die Landschaft präsentierte sich eben und wenig abwechslungsreich. Schwer vorstellbar, dass ihnen hier Gefahr drohen sollte. Die schmalen, teilweise sehr schlechten Straßen verminderten ihr Tempo. Es gab kaum Wegweiser. Zumindest Chiara hätte sich ohne Navigationssystem rettungslos verirrt. Dann zwang sie ein Umleitungsschild von der winzigen, aber immerhin noch asphaltierten Straße auf einen
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