Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
unbefestigten Weg. Ihr Navi zeigte sich überfordert, riet zum Umkehren und verstummte dann in Ratlosigkeit. Mit Schrittgeschwindigkeit holperten sie durch Schlaglöcher und über Wurzeln. Auf der Rückbank flüsterten Elena und Vanetti nervös miteinander, während Mike leise vor sich hin fluchte. Im Lauf der Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, hatte sich der Weg ins Gelände eingegraben wie ein gewundener Flusslauf – vermutlich dem Verlauf uralter Grundstücksgrenzen folgend. Den Blick nach rechts und links versperrten Erdwälle und wucherndes Gestrüpp, nach vorne sah man immer nur bis zur nächsten Kurve und in den Kurven selbst praktisch gar nichts. Gerade in so einer Kurve passierte es. Ein Traktor kam ihnen zu schnell entgegen. Ausweichen war unmöglich. Mike brachte den Jeep gerade noch zum Stehen, da rammte sie der andere schon. Seine Geschwindigkeit und die Wucht des Anpralls reichten, um die Airbags auszulösen, die sie in die Sitze pressten.
75___
Ehe Chiara begriff, was geschah, wurde ihre Wagentür aufgerissen. Blitzschnell streifte ihr jemand einen Sack über den Kopf. Der Sicherheitsgurt wurde durchtrennt und sie selbst grob aus dem Wagen gezerrt. Sie stürzte vornüber in den begrenzenden Erdwall. Ein harter Schuh drückte sie fest in die feuchten Pflanzen, ihre Hände wurden nach hinten gerissen und mit Handschellen gefesselt. An den Geräuschen und Elenas Schreckensschrei erkannte sie, dass es ihren Gefährten nicht besser erging. Sekunden später verschwand der schmerzende Druck des Schuhs in ihrem Rücken. Eine harte Hand packte ihren Oberarm und zog sie hoch. Sie stand auf wackeligen Knien, ihr Puls raste. Der Sack über ihrem Kopf nahm ihr die Sicht und stank erbärmlich. Wenigstens drang von unten genügend Luft hinein. Ihre Kidnapper ließen ihnen keine Zeit. Chiara erhielt wieder einen Stoß in den Rücken. Nur der eisenharte Griff um ihren Oberarm verhinderte, dass sie erneut stürzte. Blind taumelte sie voran, wohin die Hand sie lenkte. Sie hörte hinter sich ein Wimmern, das sie Elena zuordnete. Die Entführer sprachen kein Wort. So stolperte sie mit ihren Ballerinas eine scheinbar endlos lange Zeit über Stock und Stein. Mehr als alles andere schmerzte ihr Arm, der gnadenlos wie mit einer eisernen Klammer festgehalten wurde. Tränen strömten ihr übers Gesicht, doch sie biss die Zähne zusammen und gestattete sich keinen Schmerzenslaut. Irgendwann wurde der Weg besser, bald darauf hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie hörte das Geräusch einer knarzenden Holztür und wurde von dem mörderischen Griff über zwei flache Steinstufen in ein Gebäude dirigiert. Einige Schritte weiter stieß sie mit dem Fuß gegen eine höhere Stufe. Rasch hob sie den anderen Fuß und schaffte es, ohne Sturz eine steile Stiege zu überwinden. Wieder einige Schritte, erneut eine knarzende Türe. Anscheinend betraten sie einen Raum. Die eiserne Hand drehte sie um und versetzte ihr einen Stoß gegen die Brust. Sie taumelte zurück und fiel in ein Sitzmöbel. Ein Strick oder schmaler Gurt wurde über ihren Oberkörper geworfen und presste sie gegen die Rückenlehne. Eine Hand packte ihren linken Fußknöchel und drückte ihn gegen ein Stuhlbein. Sie hörte das Ratschen eines Klebebands und spürte, wie der Knöchel und das Holz umwickelt wurden. Gleich darauf die gleiche Prozedur mit dem anderen Fuß. Dann vernahm sie feste Schritte auf dem Holzboden und das Zuschlagen der Tür. Obwohl sie nichts sah, glaubte sie, allein zu sein.
Mike hatte Recht behalten. Sie hatten ihnen in dieser gottverlassenen Gegend eine Falle gestellt – die falsche Umleitung - und sogar der mit allen Wassern gewaschene Agent war hineingetappt. Chiara konzentrierte sich auf die gedämpften Geräusche, die an ihr Ohr drangen. Eine Zeitlang hörte sie noch eilige Schritte auf Holzdielen und das Schlagen von Türen, dann wurde es zunehmend stiller. Sie versuchte sich ein Bild von ihrem Gefängnis zu machen. Es schien sich um ein altes Gebäude mit starken Mauern zu handeln, nicht so hellhörig wie die Neubauten der letzten Jahrzehnte. Mindestens zweigeschossig, mit mehreren Räumen in jeder Etage. Irgendwo zwischen den Äckern und Feldern dieser Landschaft. Ein größerer Bauernhof vielleicht, oder gar ein Gutshof.
Sie verwandte eine Minute darauf, die Festigkeit ihrer Fußfesseln und des Brustgurts zu prüfen. Da war nichts zu machen. Immerhin konnte sie den Kopf bewegen. Der Sack saß nur locker. Als er endlich herab glitt, war ihr
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