Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Widerstand, im Gegenteil. Sie hob die Arme über ihren Kopf, damit er das Hemdchen leichter hochschieben konnte. Dann umarmte sie ihn und zog ihn ganz auf sich. Er spürte ihren Körper, warm und schmiegsam, er fühlte die Haut ihrer Schenkel und machte sich bereit, sie zu nehmen.
Als er endlich nahe genug war und nur noch Augen für ihr Gesicht hatte, das ihm kühl, rassig, erwartungsvoll entgegenblickte, zog Chiara den Dorn aus dem Haarknoten. Ihre Locken entfalteten sich. Sie merkte, dass ihm das gefiel. Er schob sich ungestüm noch weiter auf sie und presste seine Lippen auf ihren Mund. Mit den Fingern der Linken wühlte sie in seinem Nackenhaar und suchte die passende Stelle. Sie fand sie, setzte behutsam mit ruhiger Hand den Dorn an und stieß ihn genau im richtigen Winkel kraftvoll durch sein Hinterhauptsloch, direkt in das Zentrum seines Lebens. Als Tochter eines Arztes und Hobbykochs hatte sie einiges über Anatomie mitbekommen. Sie sah seine Augen unglaublich groß und weit werden, dunkel und starr. Es kostete sie alle Kraft, seinen leblosen Körper von sich zu wälzen. Angewidert wischte sie ihr Gesicht ab und richtete in aller Eile ihr Kleid. Sie leerte seine Taschen, Geldbörse, Handy, Feuerzeug, das Messer, mit dem er sie bedroht hatte, und warf alles in den leeren Wassereimer, nahm auch die Pistole und die Lampe und wollte mit der Decke, wie ursprünglich geplant, den Weg zur Tür freimachen. Aber dann besann sie sich anders, zog ihm die Schuhe von den Füßen, schlüpfte hinein und schlurfte über das Scherbenfeld. Jede Sekunde zählte. Zum Glück lagen ihre Ballerinas gleich im Gang neben der Tür. Erleichtert wechselte sie das Schuhwerk und sah sich um. Durch schmutzige, teils zerbrochene Fenster, fiel noch etwas Licht aus einem Innenhof. An der gegenüberliegenden Seite reihte sich Tür an Tür. Das Gebäude war noch größer als sie vermutet hatte. Unwillkürlich kam ihr das Gut der Parellos in den Sinn, in dem – für sie – das Abenteuer begonnen hatte. Wie viele solche verlassene Anwesen mochte es in Italien geben? Bargen sie alle ihre kleinen Geheimnisse?
Sie erkannte im Lampenschein Elenas Pumps, die drei Türen weiter auf den Dielen lagen. Der Schlüssel steckte außen. Rasch sperrte Chiara auf und öffnete die Tür. Der Raum ähnelte ihrer Zelle. Auch hier hatten sie die Scherbennummer durchgezogen. Ihre Freundin lag still auf der Holzpritsche. Ein eisiger Schreck durchzuckte Chiara beim Anblick der reglosen Gestalt, dann wandte Elena langsam den Kopf und sah sie an. Um ihr rechtes Auge dehnte sich ein dunkler Bluterguss, auf der geschwollenen Wange schimmerte getrocknetes Blut.
„Chiara“, flüsterte sie. „Es sind Schweine.“
„Sie halten uns für Dreck“, bestätigte die Freundin. „Und so behandeln sie uns. Aber jetzt können wir nicht reden. Kannst du gehen?“
Elena setzte sich auf und nickte. Chiara half ihr in die Pumps und zog sie hoch.
„Hast du etwas von Vanetti gehört?“
„Nein. Wo ist Mike?“
„Nicht hier, glaube ich“, murmelte Chiara. „Komm!“
Ohne Mühe fanden sie Vanetti, der ebenfalls einige Schrammen im Gesicht trug, sich abgesehen davon aber in relativ guter Verfassung befand. Entsetzt starrte er Elena an, sagte aber nichts. Sie öffneten alle Türen im Obergeschoß, doch von Mike keine Spur. Elena betrachtete den Toten in Chiaras Zelle ohne Mitgefühl. Sie registrierte seine hinunter gezogenen Hosen.
„Aha“, sagte sie. „Der war scharf auf dich. Bei mir hat er nur zugesehen.“ Auch die Räume im Erdgeschoß, wo die Entführer gehaust hatten, standen leer. Auf dem Gang davor reihten sich etliche nagelneue Plastikkanister aneinander. Vanetti öffnete einen und schnupperte daran.
„Benzin“, stellte er fest. „Wozu haben sie da ein Tanklager angelegt?“
„Nicht um zu tanken“, vermutete Chiara. „Tankstellen gibt es reichlich. Ich denke, damit wollten sie nach getaner Arbeit ihre Spuren verwischen.“
Ihre Gefährten sahen sie ungläubig an.
„Meinst du mit Spuren etwa uns?“ krächzte Vanetti.
Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
„Glaubst du, sie hätten uns laufen lassen?“
„Diese widerlichen Mörder“, zischte Elena. „Wollten uns bei lebendigem Leib verbrennen.“
„Nun“, erwiderte Chiara, „wenn alles nach dem Plan unseres Aufpassers abgelaufen wäre, hätte ich das nicht mehr erlebt.“
Im Hauptquartier der Bande stapelten sich schmutzige Pappteller, Pizza-Kartons, Plastiksäcke, Essensreste
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