Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Gefangenschaft auf den Boden. Ihre Lider wurden schwer, sie glitt in einen unruhigen Halbschlaf.
78___
Die Vision kam ohne Vorankündigung. Wie schon zweimal im verlassenen Weinkeller, hatte Chiara erneut das Gefühl, rasend schnell in sich selbst gezogen zu werden. Wieder schrumpfte sie bis zu jenem Punkt am Ende ihrer Existenz. Diesmal allerdings ohne das begleitende Getöse und frei von Angst, als ob sie einen vertrauten Weg ginge. Sie schwebte wieder im Raum mit seinen komplizierten Mustern, doch sie war nicht allein. Eine riesige Zahl freier Seelen umgab sie, große, weite Wesen aus dunklem Licht. Licht ohne Schein, Sein ohne Last, ein Inbegriff immateriellen Lebens. Sie tauchte ein in ihre wilde, ewige, grenzenlose Freude, in ihre reine Lust und ihr pures Vergnügen. Sie wurde von ihnen mitgerissen, während sie durch Metaraum und Universum tobten, in Sternen badeten, Planeten umhüllten, Leben befruchteten und durch schwarze Löcher glitten. Es war wie ein einziger, endlos langer Moment reinsten Entzückens. So abrupt wie die Vision – oder war es doch nur ein Traum? – begonnen hatte, endete sie auch. Noch eine Botschaft? Was bedeutete sie? Über ihre Wangen perlten Tränen. Im totalen Gegensatz zu ihrer bedrohlichen Lage handelte es sich um Tränen ungetrübten Glücks. Ihr schien, als hätte sich ihr eine Landschaft aufgetan, schöner als sie sich je eine hätte ausmalen können. Schöner als ein van Gogh, Turner oder Caspar David Friedrich je eine gemalt hatten. So saß sie da in Dunkelheit und zunehmender Kälte, ausgeliefert und gedemütigt und fühlte sich doch stark, stärker als je zuvor. So schlief sie ein.
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Am nächsten Morgen erwachte Chiara steif und unterkühlt. Das nächtliche Hochgefühl war geschwunden. Sie zwang sich zu gymnastischen Übungen, bis die Wärme in ihre Gliedmaßen zurückkehrte, danach machte sie sich mit ihren bescheidenen Mitteln frisch und aß etwas. Dann vernahm sie erneut die Stimmen der Entführer und lauschte gespannt. Die Männer besprachen eine Fahrt nach Udine. Gianni, der Italiener, dem sie es wohl verdankte, dass die Unterhaltung großteils auf Italienisch geführt wurde, sollte mit Fahed hierbleiben und weiter üben. Was übten sie? Übten sie mit ihm ? Ließ der A-Grav das zu?
Fahed war offensichtlich der älteste und bedachteste in der Runde. Die beiden, die nach Udine fahren sollten, hießen Abid und Salih. Immer wenn Salih etwas sagte, fühlte sie Wut in sich aufsteigen und wusste, dass ihr Gesicht sich rötete. Salih, der Drecksack, Salih, das Schwein. Wie hatte er es wagen können? Sie dachte an den Dorn, der in ihrem Haar versteckt war. Über ihre Freunde erfuhr sie wieder nichts. Als sie später ein Auto hörte, lief sie zum Fenster. Für kurze Augenblicke sah sie einen dunklen BMW mit getönten Scheiben, der hinter den Zypressen verschwand. Bald darauf kamen zwei Personen die Treppe herauf. Sie gingen an ihrem Raum vorbei, kamen aber rasch zurück. Fahed öffnete die Tür. Hinter ihm stand ein zweiter Mann, ein junger Italiener, wohl Gianni, der eine schussbereite Waffe in der Hand hielt. Fahed nickte ihr kurz zu und warf eine Plastiktüte über den Streifen aus Glas- und Metallsplittern.
„Wie geht es Elena?“ fragte Chiara. „Wann lassen Sie uns frei?“
„Es geht allen gut“, erwiderte der Ältere gleichmütig und schloss die Tür. Sie hörte, wie sich der Schlüssel zweimal drehte. In dem Plastikbeutel steckten Sandwiches, Schokoriegel, Säfte und – dafür war sie wirklich dankbar – ihre Toilettentasche.
Die Zeit verrann nicht mehr, sie wurde zähflüssig und klebrig wie Honig, den man nicht von den Fingern bekommt. Es gab nichts zu hören und nichts zu sehen außer einigen kleinen Vögeln, die an den Fenstern vorbei flatterten, stets geschäftig und in Eile.
Der BMW kam erst nach Sonnenuntergang zurück. Es dauerte nicht lange, bis sich alle in ihrem Hauptquartier einfanden. Sie redeten laut durcheinander. Am aufgeregtesten tönte Giannis Stimme und brachte die anderen zum Verstummen.
„Wir werden in die Geschichte eingehen.“
„Wenn das Ding funktioniert.“
„Es funktioniert. Ich beherrsche es jetzt. Es ist natürlich sehr empfindlich. Nicht jeder kann damit umgehen. Aber heute habe ich es geschafft. Es folgt mir sozusagen aufs Wort. Ihr werdet staunen.“
Chiara glaubte fast zu sehen, wie die anderen die Prahlerei des Italieners halb erleichtert und halb missmutig aufnahmen. Einer sagte: „Irgendwie macht es mir
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