Chiffren im Schnee
Eberhardt ungeduldig auf Schnee zum Skifahren wartete. Unter dem Personal war man der Ansicht, dass der verspätete Winter ein Segen war. So wie Fräulein Eberhardt wanderte, brauchte sie auf Skiern ganz bestimmt nicht lange, um schwer zu stürzen. Ihre Wildheit rief viel Kopfschütteln hervor, und man wunderte sich, warum die Mutter das zuliess.
Natürlich war es gut möglich, dass Fräulein Eberhardt einfach noch einmal ihre Freiheit geniessen wollte. Doch Anna hatte die verzweifelte Entschlossenheit und Freudlosigkeit bemerkt, mit der Louise Eberhardt sich jeweils auf den Weg machte. Es gab einen weiteren Grund, warum eine junge, unverheiratete Frau ihren Körper immer wieder zum Äussersten trieb. Anna hatte schon erlebt, worauf das hinauslief: Der plötzliche Ruf nach dem Doktor, das Tuscheln und Kopfschütteln, Laken und Tücher, die schnell zur Seite geschafft werden mussten, und das beschämte Schweigen über das furchtbare Ende dessen, was einfach nicht hatte sein dürfen.
Ein oder zwei Mal überlegte Anna, mit der Mutter zu sprechen – aber als sie den hochprozentigen Hauch wahrnahm, der die Dame bereits am Vormittag umgab, gab sie das Unterfangen auf. Es konnte ja auch sein, dass sie sich irrte. Besorgt wartete sie jeden Nachmittag auf die Rückkehr der jungen Frau und wünschte sich, dass Henning bereits da wäre. Er war der Einzige im Haus, mit dem sie über ihren Verdacht zu sprechen gewagt hätte.
Auf Anfang Dezember traf das Gepäck des Lieutenants ein, der Gentleman würde wenig später folgen. Fuhrhalter Meier brachte die Koffer und Kisten vom Bahnhof, und ein kleines Heer von Portiers und Hausknechten trug sie in die Kleine Suite. Das Auspacken wäre eigentlich Josts Aufgabe gewesen, doch innerhalb kürzester Zeit war kaum noch ein Durchkommen, Portiers und Hausknechte standen vor einer Rebellion, und Hans verlangte an der Réception empört nach Fräulein Staufer.
Als Anna in die Suite kam, stapelten sich bereits überall Reisetaschen, Überseekoffer und in Wolldecken verschnürte Holzkisten. Eben trugen zwei Hausknechte einen weiteren Packen herein. Das Stück musste ein ordentliches Gewicht haben, wie Anna aus den Kommentaren schloss, die fielen, bevor die Männer ihre Anwesenheit bemerkten.
Zwischen zwei Koffern entdeckte Anna einen Umschlag, in dem eine Liste der verschiedenen Gepäckstücke samt Inhalt steckte. Sie schickte Jost, der ein unheimliches Geschick hatte, immer dort zu sein, wo er anderen in die Quere kam, ins Schlafzimmer, um die Überseekoffer mit der Garderobe des Gentlemans auszuräumen. Dann machte Anna sich mit der Liste in der Hand daran, Ordnung in das Chaos zu bringen.
Die grossen Packen waren als «Shannon-Registrators» aufgeführt. Während Anna noch darüber nachsann, was das wohl heissen mochte, erklang von der Tür eine bekannte Stimme: «Stauffacherin!»
So nannte sie nur Henning, angeblich weil sie ihn an die herrische Dame aus Schillers Stück gemahnte. Deren Motto «Schau vorwärts und nicht hinter dich!» kam der Wahrheit in Annas Leben beunruhigend nahe; das mochte Henning, unter dessen frivoler Schale sich ein scharfer Beobachter verbarg, wohl ahnen. Er war mit demselben Zug wie das Gepäck des Lieutenants angekommen und kletterte nun über Koffer und Kisten, um Anna mit einem formvollendeten Handkuss zu begrüssen.
«Das hätte ich mir denken können, Euch hier anzutreffen, im grössten Schlachtfeld, das dringend der zarten, doch ordnenden Hand der untadeligen Gouvernante bedarf! Ach, wie ich Euch vermisst habe – keine Eurer Standesvertreterinnen an den Gestaden des blauen Mittelmeers kann Euch das Wasser reichen.»
Anna versuchte erst gar nicht, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Sie meinte schlicht: «Sie wurden auch vermisst, Henning. Ich hoffe, Sie sind wohlauf?»
In diesem Moment bemerkte sie das leichte Schillern auf seinem linken Jochbein. Sie biss sich auf die Lippen, doch er liess sich nichts anmerken.
«Oh – nur eine kleine Unpässlichkeit, alles wieder in Ordnung.»
Anna fuhr im selben unverfänglichen Ton fort: «Wie war es an der Riviera? Hat es Ihnen dort besser gefallen als hier in den Bergen?»
«Nicht unbedingt, doch der Mensch braucht Abwechslung. Aber anscheinend habe ich einiges verpasst – bisher habe ich nur ein paar nebulöse Andeutungen gehört, ich kann es kaum erwarten, mehr zu erfahren. Und was hier los ist, hat mir Herr Ganz schon berichtet. Das ist wohl Jost, der künftige Valet, der da so verloren vor
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