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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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einem Schrankkoffer steht?» Er griff nach dem Bund Kofferschlüssel, die auf dem Stehpult lagen, und warf sie mit einem Ruf dem verblüfften Jost zu. «Da, probier halt einfach, welcher passt. Der Koffer wird nicht aufgehen, nur weil du ihn anstarrst.»
    Henning wandte sich wieder Anna zu. «Nicht gerade der Schnellste, hmm? Und was haben wir denn da?» Er zeigte auf einen der Kästen.
    «Shannon-Registrators, was immer das auch ist – ich glaube, da drin werden Bücher sein.»
    Er pfiff anerkennend. «Das sind stapelbare Bücherschränke. Die englischen Herren auf Auslandsmission nehmen so ihre Bibliothek mit. Wunderbar praktische Erfindung.»
    Gemeinsam öffneten sie einen der Packen und fanden darin ein Schrankelement mit Glastür, die zusätzlich mit Jutesäcken geschützt war. Mehrere solcher Elemente aufeinandergestapelt ergaben einen Bücherschrank. Anna wies die Knechte an, alle Packen auszuwickeln, und half eifrig mit.
    Henning zupfte sie am Ärmel. «Dass die Stauffacherin so vielen Büchern nicht widerstehen kann, habe ich mir schon gedacht. Aber ich fürchte, der Bursche wird im Schlafzimmer nicht alleine zurechtkommen. Wenn’s recht ist, übernehme ich das.»
    Anna nickte dankbar; das Zusammenbauen der Schränke verlangte einiges an Zeit, auch wenn die Elemente mit Nummern versehen waren. Zwischendurch widmete sie sich verstohlen den Bücherrücken. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie auch hier die Schriftzeichen, die sie von Herrn Brennwalds Kunstsammlung her kannte. Sie hätte zu gerne eines dieser fremdländischen Werke aufgeschlagen, aber sie war kein junges Zimmermädchen mehr auf der Suche nach Lesestoff – zumal sie nichts davon hätte entziffern können.
    Schliesslich war das Lesezimmer eingeräumt. Während die Hausknechte Packmaterial, Decken und Bänder wegräumten, hörte Anna Henning im Schlafzimmer aufstöhnen. Anscheinend ging es um die Feinheiten der Herrengarderobe.
    «Was bist du doch für ein Tölpel. Ein solcher Gentleman hat keine auswechselbaren Kragen und Manschetten. Der zieht jeden Tag ein neues Hemd an!»
    Anna wandte sich einer noch zugenagelten Holzkiste zu, der Liste zufolge sollte sie zwei Bilder enthalten. Nachdem Hans die Kiste vorsichtig geöffnet hatte, befreite Anna die Bilder aus ihrem Kokon von Holzwolle und Seidenpapier. Als Erstes kam eine winterliche Landschaft zum Vorschein, an der Herr Brennwald seine Freude gehabt hätte. Das Bild zeigte ein Dorf in den Bergen; Gestalten mit seltsamen Kopfbedeckungen aus Stroh eilten durch den tiefen Schnee im abendlichen Zwielicht nach Hause.
    Die Kälte und der Wunsch der Menschen, so schnell wie möglich in ihr warmes Heim zu kommen, waren deutlich zu erahnen. Wie eigenartig, dass ein Künstler am anderen Ende der Welt aus der Fremde heraus so vertraute Erfahrungen vermitteln konnte. Am meisten war Anna aber von der Stille beeindruckt, die von dem Kunstwerk ausging – es war die Stille des Winters. Der Lieutenant schien an diesem Bild zu hängen, den auf der Liste war vermerkt, dass er es vom Bett aus sehen wollte.
    Das zweite Bild war nicht so idyllisch, es zeigte eine junge Frau in reich fliessenden Gewändern; die fast zu Boden reichenden Ärmel üppig mit Blumen und Ranken geschmückt; ein kunstvoll geschnitzter Kamm zierte das schwarze Haar. Sie hielt eine Schriftrolle in ihren Händen, auf die sie beunruhigend selbstbewusst herabblickte.
    Henning und Hans waren inzwischen hinzugetreten, um die Bilder zu betrachten. Die Dame schien beide zu faszinieren. Anna erging es nicht anders, sie drehte das Bild, um zu sehen, ob es eine Beschriftung hatte. Auf der Rückseite hatte wahrscheinlich der Kunsthändler einen Zettel mit einigen Erläuterungen aufgeklebt. Henning übersetzte genüsslich für Hans: «Das ist eine japanische Poetin. Eine Hofdame; berühmt für ihre Gedichte, die von den Freuden und Schmerzen ihrer zahlreichen Liebschaften handeln. Woraus wir schliessen können, dass sie auch eine Schönheit war.»
    Hans brummte: «Hofdame! Das klingt mir mehr nach Kurtisane – so was Heidnisches!» Er bückte sich hastig, um noch herumliegende Holzwolle einzusammeln. Hans gehörte einer Freikirche an und las jeden Abend in der Bibel. Über die ihm unterstellten Knechte führte er ein strenges, alttestamentarisches Regiment. Es verging kein Tag, an dem er sie nicht daran erinnert hätte, dass alle Arbeit zu Ehren Gottes verrichtet werden sollte.
    Anna drehte das Bild wieder um und betrachtete die Frau eingehend.

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