Chiffren im Schnee
man nicht. «Da fällt mir ein, wo ist Jost? Ich muss mit ihm noch einiges besprechen. Es wird zu seinen Aufgaben gehören, die Suite wohnlich zu machen, und ich wollte ihm einige Ratschläge geben.»
«Oh, Fräulein Staufer, ich weiss nicht. In diesen Schädel kriege ich ja kaum die nötigsten englischen Vokabeln.»
«Er muss das aber lernen, ich kann nicht ständig dort aufmarschieren und alles prüfen – vor allem nicht, wenn der Lieutenant auch anwesend und vielleicht noch bettlägerig ist. Das schickt sich nicht. Und dann weiss ich aus Erfahrung, dass Offiziere es nicht mögen, wenn ihr Quartier von einer Frau kontrolliert wird.»
«In der Tat, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wer weiss, vielleicht spornt Jost etwas zusätzliche Verantwortung ja zu grösserem Eifer an.» Herr Ganz selbst schien seinen Worten kaum Glauben zu schenken, aber es war ein tapferer Versuch.
Anna stöberte Jost schliesslich unter den Bäumen am Rande des Parks auf, wo er sich wohl eine Verschnaufpause gönnen wollte. Sie kannte kein Erbarmen und hiess ihn, ihr in die Suite zu folgen, wo sie ihm seine haushälterischen Pflichten erklärte. Er lauschte schicksalsergeben; Protest regte sich erst, als er begriff, dass er auch die Arbeit der Zimmermädchen überwachen musste.
Doch Anna liess ihn gar nicht erst ausreden. «Es geht nicht an, dass die Zimmermädchen hier jeden Tag mit einem Gast alleine sind – so etwas gibt immer Anlass zu Gerede. Und wenn etwas nicht ordentlich erledigt wird, gibst du Herrn Ganz oder mir Bescheid. Du solltest das alles aufschreiben. Hier, nimm ein Blatt Papier und meinen Stift – ich seh schon, dass bei dir alles zum einen Ohr rein- und beim anderen wieder rausgeht.»
Die nächste halbe Stunde war der arme Jost einem gnadenlosen Diktat ausgeliefert, und natürlich tat es nur ein Blatt aus dem gefürchteten Notizbuch nicht. Als er schliesslich mit einem ganzen Bündel loser Blätter (und der Order, diese zusammenzuheften) abzog, tat er Anna fast leid.
Jost mochte es so vorkommen, als hätten sie und Herr Ganz nichts anderes zu tun, als ihm das Leben schwer zu machen. Tatsächlich hatten beide jede Menge anderer Sorgen mit all den Vorbereitungen und den vielen grossen und kleinen Problemen, die immer kurz vor der Eröffnung scheinbar aus dem Nichts auftauchten.
Zudem musste auch noch das neue Personal eingewiesen werden. Es war eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus allen europäischen Nationen; ein Spiegelbild der Gästeschaft. Die Sprachenvielfalt im Personal-Speisesaal veranlasste Hans, den ältesten Hausknecht, zu einer kleinen Mahnrede über den Turmbau zu Babel und die Gefahren der modernen Zeit, die wie das alte Babylon an ihrer Hybris – er las in seiner freien Zeit viele Predigten – zugrunde gehen würde. Wie üblich hörte ihm niemand zu.
Herr Ganz beklagte sich bei Anna, dass für diese Saison erstaunlich viele «Gestalten mit zweifelhaften Zeugnissen» vorgesprochen hätten. Anscheinend dachten die Leute, man würde im Splendid jeden anstellen.
Es war höchste Zeit, dass das Personal vollständig war, denn die ersten Gäste reisten schon an. So früh lag zwar noch kaum Schnee, und das Eisfeld im Park war auch noch nicht bereit. Doch die hauptsächlich älteren Herrschaften genossen eh lieber die letzte Sonne des Spätherbstes auf langen Spaziergängen und wussten die Ruhe vor der Ankunft der lebhafteren, wintersportbegeisterten Klientel durchaus zu schätzen.
Lediglich eine Frau Eberhardt und ihre Tochter Louise wollten nicht so ganz in das beschauliche Bild passen. Die Mutter, eine knochige Frau mit fahriger Art, brachte eine eigenartige Unruhe unter die Gäste. Sie sass meistens im Damensalon und redete von nichts anderem als der für das Frühjahr geplanten Hochzeit der Tochter.
Louise Eberhardt schien die Gesellschaft ihrer Mutter zu meiden. Von gleicher Gestalt erschien die Tochter dem Betrachter dank ihrer Jugend schlank statt dürr wie die Mutter, und nichts an ihr wirkte fahrig – ganz im Gegenteil. Sie brachte die Menschen eher mit der Heftigkeit ihres Wesens aus der Fassung. Sie gab kurz angebunden Antworten, und obwohl sie ein hübsches Gesicht hatte, sah man sie nie lächeln. Ungehörigerweise verbrachte sie ihre Zeit mit langen, einsamen Wanderungen in den Bergen. Aus dem Dorf kamen Gerüchte, dass das junge Fräulein in ungeeignetem Schuhwerk auf gefährlichen Pfaden und abgelegenen Alpen gesehen worden war.
Alle im Hotel wussten, dass Fräulein
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